Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
in der Stadt gewohnt. Dann hatten sie geheiratet und ein Kind bekommen. Weil er nicht wollte, dass das Kind ohne Garten aufwuchs, drängte er sie dazu, ihre Altbauwohnung in Kreuzberg aufzugeben und in das Reihenendhaus hier zu ziehen. Weil es praktischer und sicherer war, hatten sie ihren Alfa Romeo verkauftund einen Mazda mit sieben Sitzen angeschafft, in dem der Kopf des Kindes wie ein einsamer Planet im All auftauchte. Weil es praktisch war, trugen die beiden bunte Surferschuhe; weil es praktisch war, kauften sie nicht mehr im KaDeWe, sondern beim Edeka um die Ecke ein. Sie übernahmen die Wohnzimmereinrichtung von seinen Eltern. Eine Kette von nachvollziehbaren, sinnvollen und vernünftigen Entscheidungen hatte sie dahin gebracht, wo sie jetzt waren. Es gab Erdbeerkuchen und Sprühsahne. Der Mann trug, weil er gerade von der Arbeit gekommen war, Flipflops zur Anzughose; wenn er in die Küche ging, um einen Weißwein zu öffnen, hallte das Klatschen seines Schuhwerks im Flur.
Julian arbeitete viel, er fuhr morgens um sieben mit seinem Dienstwagen ins Büro und kam nie vor acht nach Hause.
Wenn Theresa vormittags aus dem Haus in einen vernieselten Westberliner Herbsttag trat, lag vor ihr eine lange, leere Straße, und das einzige Lebewesen, das sie erkennen konnte, war ein Hund, der gegenüber an eine grüne Recyclingtonne pinkelte. Sie arbeitete an ihrer Doktorarbeit und schaute dabei in den Garten, über dem der Nebel hing. Sie war jetzt achtundzwanzig. Im Haus war es sehr still, und die Stille machte sie nervös. Deswegen fuhr sie vormittags nach Mitte, kaufte sich am Hackeschen Markt neue Kleider, trank einen Kaffee und beobachtete die Männer am Nebentisch; sie hatten ihre Mobiltelefone auf den Tisch gelegt, wie es Cowboys in alten Western mit ihren Revolvern tun. Wenn sie einen Satz beendet hatten, wippten sie bestätigend mit dem Kopf. Sie bewegten sich anders und sahen anders aus als die Männer im Westen der Stadt – es war eine andere Spezies, höchstens weitläufig verwandt. In Zehlendorf war sie mit Abstand die Jüngste; oft wurde sie für die Tochter, nicht für die Frau des Bewohners der Villa gehalten. Außer dem trostlosen jungen Paar nebenan gab es nur noch eine Frau in ihrer Straße, die unter sechzig war, eine Russin, die ein paar Häuser weiter wohnte und ihre Tage in den Cafés am Kurfürstendamm verbrachte, wo sie kichernd und augenrollend in ihr diamantenbesetztes Mobiltelefon hineinplapperte. Aber sogar dieRussin war sieben Jahre älter als sie – hier dagegen, im Café Bravo, gehörte Theresa allmählich zu den Älteren. Sie stellte fest, dass der Westen sie verändert hatte: Ihre Kleidung, ihre Frisur, ihre perfekt manikürten Füße und Hände, ihre mit Dahlemer Duftölmassagen butterweich geknetete Haut – all das hatte sie zu einem Wesen aus einer anderen Galaxie gemacht. Sie fuhr jetzt fast jeden Tag nach Mitte und abends zurück in den Westen, so wie es früher die Leute gemacht hatten, die nur einen Tagesschein besaßen.
Julian sah die Rückverwandlung von Theresa in einen Mitte-Menschen mit Entsetzen. Er rief seinen Freund Tobias an, um mit ihm ein Bier in der Newton Bar zu trinken. Dort lernte er Dorottya kennen. Sie kam aus einem Dorf nördlich von Budapest und studierte Sport in Berlin, jedenfalls erzählte sie das. Ihre Eltern waren Bauern, sie hatte sechs Geschwister und ein Kind, zu dem es keinen Vater gab. Um das Kind und sich durchzubringen, hatte sie als Trainerin in einem Fitnessstudio in Wien gearbeitet. Als ihr dort gekündigt wurde, begann sie als Serviererin in einem Saunaclub, der an der Grenze lag, und bald servierte sie dort nicht nur. Nebenbei trainierte sie in einem Wrestlingclub und verdiente Geld, indem sie bei Wrestlingwettbewerben gegen andere muskulöse Frauen antrat. Ein Freund brachte sie nach Berlin. Nachdem Julian sie zweimal in einem vergammelten Hotel getroffen hatte, bat sie ihn um eine empfindlich große Summe Geld. Er erklärte ihr, daran sei gar nicht zu denken, aber Dorottya ließ nicht locker. Als er beim dritten Mal wieder nicht zahlen wollte, fuhr sie zu Theresa und erzählte ihr alles. Ein paar Tage später ließ sich Theresa einen Drachen tätowieren und suchte sich ein Zimmer; sie zog zu Marie Bergsson.
Obwohl sie zusammenwohnten, sahen sich Marie und Theresa selten. Marie arbeitete jetzt tagsüber in einer Galerie, die kein Mensch kannte, und abends in einer kleinen Bar in der Nähe vom Rosenthaler Platz, und wenn sie
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