Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
vormittags nicht schlief, gab sie Anfängern in einer Schauspielschule Sprachunterricht. Theresa schrieb weiter an ihrer Doktorarbeit; sie verbrachte die Tage in ihrem Zimmer. Auch hier wares ruhig. Sie hörte, wie die Frau aus dem zweiten Stock den Soundtrack von Titanic mitsang; sie hörte, wie der alte Mann aus dem ersten Stock über mehrere Wochen hinweg versuchte, mit einer asthmatischen Bohrmaschine Löcher in eine neu eingezogene Brandschutzmauer zu bohren. Irgendwann lag die Bohrmaschine dann in der Tonne für Biomüll; danach war es noch ruhiger.
Ende Juli geriet Marie mit dem Mercedes in eine Radarfalle. Sie bekam drei Punkte, einen Monat Fahrverbot und die Auflage, ein Fortbildungsseminar für punkteauffällige Verkehrsteilnehmer zu besuchen (sie hatte jetzt vierzehn Punkte, sieben wegen Nötigung eines Reisebusfahrers, den sie durch ein Lichthupenfeuerwerk von der linken Spur gedrängt hatte, die anderen wegen diverser Geschwindigkeitsdelikte).
Die Punkteauffälligen trafen sich wie Teilnehmer eines illegalen Pokervereins im fensterlosen Hinterzimnmer einer Fahrschulein einer Seitenstraße von Moabit, in der Nähe des Gefängnisses.
Der Leiter des Kurses hieß Wolf. Er sprach, wie man mit sprachunkundigen oder begriffsstutzigen Menschen redet, übertrieben korrekt. Er lächelte mild und erklärte, man habe sich hier ja nicht ganz freiwillig versammelt, auch er habe »in jungen Jahren« schon mal die eine oder andere Dummheit am Steuer begangen – wenn er hingegen heute daran denke, da könne ihm schlecht werden! –, und deswegen sei er nun neugierig zu hören, was die Teilnehmer des Kurses zu ihm führe; ein jeder möge sich (er zerrte an dieser Stelle ein vorgedrucktes, grünliches Formular aus seiner Tasche und las den Fragenkatalog vor) mit seinem Namen vorstellen, dazu Beruf, Hobby und das Auto nennen, das er gerade fahre, und erzählen, wie er zu seinen Punkten gekommen sei. Dann nickte er aufmunternd einem dicken Syrer zu, der mit finsterer Miene hinter seinem Namensschild saß. Er hatte beeindruckende Arme, die eher quadratisch als länglich wirkten. Er hieß Mahmud und besaß eine Imbissbude in Schöneberg; als Hobby gab er Essen und Bodybuilding an, er fuhr einen Fiat-Transporter und hatte siebzehn Punkte; ein Polizist habe ihnnach einem angeblichen Rotlichtverstoß aus dem Verkehr gezogen, es habe dann ein paar Handgreiflichkeiten und einen Prozess gegeben.
»Was waren denn das für Handgreiflichkeiten?«, fragte Wolf und verzog den Mund zu einem ironischen Kräuseln, man bekomme ja nicht einfach so siebzehn Punkte, woraufhin der Syrer zornig wurde und sagte, er hier, mit seinen schönen Fahrschulschildern (er schlug dabei rückwärts mit dem Handrücken gegen ein Fahrschulschild, das scheppernd vom Tisch fiel), habe doch gar keine Ahnung, wie schnell das gehe in einem Land, in dem alle Verbrecher, die zu feige seien, irgendwo einzubrechen, bei der Polizei arbeiteten.
»Das ist nun sicher etwas übertrieben, aber wir kommen später darauf zurück«, erwiderte Wolf mit einem seifigen Tonfall.
Der Teilnehmer neben dem Syrer war etwa Mitte vierzig und sehr dünn, trug einen weiten Rautenpullover und eine silberne Stahlbrille, das dünne Haar hatte er nach vorn in die Stirn gekämmt.
»Und Sie sind der Herr …?«
»Viehsen«, krächzte der Mann. Eine alte Frau beugte sich interessiert vor.
»Und wie viele Punkte haben Sie?«
Herr Viehsen saß mit eingezogenem Kopf da, als müsste er sich vor einer mit hohem Tempo heranschießenden Gefahr wegducken, und drehte das leere Papier eines Bahlsen-Crispini-Beutels zu einem Strang zusammen. Seine Stimme war ein belegtes Quaken, als er sagte:
»Drei.«
Es gab ein Raunen im Raum.
»Das ist nicht viel«, sagte Wolf erstaunt.
Die angestaute Verbitterung der Kursteilnehmer bahnte sich ihren Weg in einem brüllenden Gelächter. Der Dreipunktemann schaute gedemütigt, als sei die Anzahl der Punkte ein Männlichkeitsindikator, der für ihn ungünstig ausfiel. Der dicke Syrer lachte zum ersten Mal herzlich und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.
»Drei Punkte! Drei Punkte! Alter!«
»Es könnte sein, dass ich wegen einer Abstandsmessung noch dreibekomme«, schob Herr Viehsen mit puterrotem Kopf nach. »Wir wohnen draußen in Brieselang, wir brauchen das Auto. Und sechs Punkte würde mir meine Frau nicht verzeihen.«
Es folgte die Vorstellung der weiteren Teilnehmer: eine renitente Rentnerin aus Spandau, die im Parkhaus mit ihrem
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