Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
ihr ganzes Geld dem Fahrer gegeben, damit er schnell losfuhr. Es war August, und es war heiß; die Leute kamen mit Autos, Flugzeugen, Zügen in die Stadt, es war eineallgemeine Mobilmachung, vor den Bars sprangen die Aufgekratzten herum: Hallo, wo geht denn ihr jetzt hin? – Wo ist das denn, Mann? – Lasst ihr mich bitte mal durch da? Nee? Ich kenn aber den Boris. – Den kennt jeder. – Den kennt nicht jeder.– Doch! – Nein. – Hau ab, sonst fängst du dir eine! –
Sie fuhren durch die Gegend, bis es hell wurde. Ein paar Übriggebliebene stolperten durch den Morgen, jemand übergab sich vor dem geschlossenen Prater; eine gelbe Straßenbahn quietschte in die Kurve und verschwand in Richtung Schönhauser Allee. Marie Bergsson wollte noch irgendwohin, wo Techno gespielt wurde, sie liebte Techno, liebte das Riesenhafte und Schwitzende, das Oberkörperfreie und Naturgewaltenhafte, den pyrotechnischen Wahnsinn, die Explosionen und Rauchsäulen und Lichtdome, den großen Massenkörper; sie freute sich, dass Hüseyin mitkam, denn Theresa hasste diese Abende, wie sie in ihrer ausgeglichenen Art sonst nichts hasste, sie verabscheute die, wie sie es formulierte, Mischung aus Nazi- und Hippietum. Sie stritten sich oft darüber, Marie fand, dass Techno im Gegenteil die Leute mit seiner schieren Kraft und seinem Lautstärkepegel aus der muffigen Loungegemütlichkeit, von den Bierbänken in den kleinen Seitenstraßen, aus ihrer kopfsteingepflastertenErdverbundenheitsenge herausreiße und in eine größere Welt hineinkatapultiere: So sei das.
Vor der Tür des Clubs standen schwere Geländewagen, drinnen trugen die Frauen Tanktops mit Tarnmustern und die Männer Bomberjacken oder Parkas genau wie 1991, als Bergsson nach Berlin gekommen war; das Nachtleben war ihr Krieg. Während irgendwo vor Kuwait-Stadt ein paar amerikanische GIs in ihren M2-Bradley-Panzern auf das Stadtzentrum zurasten und dabei Hardrock hörten, standen sie mit Bomberjacken und Combat-Hosen in Berliner Technodiscos im Stroboskopgewitter und warteten, dass der tiefe Donner der Bässe in ihre Eingeweide drang. Über fünfzig Jahre Frieden schienen die Leute zu langweilen; sie litten unter der Ereignislosigkeit ihres Lebens, sie hatten ganz offenbar Sehnsucht nach Krieg und Abenteuer – vielleicht, weil angesichts einer monumentalen Katastrophe die Frage, wann aus irgendeinem Internetprojekt denn endlich etwas werde oder wie lange und zu welchem höheren Zwecke man denn noch Kommunikationsdesign oder irgendeinen anderen Unsinn studieren und das Geld dafür mit dem Aufschäumen von Milch verdienen solle, endlich in den Hintergrund treten und von dem Ungeheuerlichen weggewaschen würde.
Sie schliefen bis nachmittags um fünf. Dann fuhr Marie, weil Hüseyin seinen Cousin zu sehen hoffte, der irgendwo am Kurfürstendamm herumsaß, mit ihm nach Charlottenburg. Sie parkten den Mercedes in der Grolmanstraße, und weil Marie ein Bier trinken wollte, gingen sie ins Diener, in dem um diese Uhrzeit nur ein betrunkener Schauspieler saß, der einmal mit Fassbinder gedreht hatte und den Abend damit verbrachte, seine alte Rolle aufzusagen. Draußen wurde es wieder dunkel, Charlottenburg lag festlich erleuchtet da, die Fassaden erinnerten an einen illuminierten Adventskalender. An einer Ecke schimmerte die Leuchtschrift eines heruntergekommenen französischen Lokals, vom Schriftzug »Reste fidèle« war nur das Wort »Reste« erleuchtet, es sah aus wie eine Warnung. Durch das Fenster sahen sie dieSilhouette des Journalisten Franz Josef Wagner, der auf einen Mann einredete. Es war der steinalte Explayboy Rolf Eden; er saß mit zwei Russinnen, die seine Enkelinnen hätten sein können, an einem Tisch am Fenster. Die Russinnen trugen kniehohe Lederstiefel, eine spielte gelangweilt an ihrem Mobiltelefon herum. Eden trat damals im Lokalfernsehen auf, man sah, wie er am Strandbad Wannsee Berliner Mädchen in Bikinis musterte: Sie sollten ihm vorführen, was ihnen an ihren Körpern nicht gefiel; den aus seiner Sicht dramatischsten Mangel würde er, das war das Versprechen der Sendung, durch eine Schönheitsoperation beheben lassen.
Jemand hupte, weil Eden seinen Rolls-Royce in zweiter Reihe geparkt hatte. Einen Moment später stürzte der Wirt, ein Mann mit altägyptischer Frisur, aus dem Lokal, um unter den Beschimpfungen des Mannes, dessen Auto zugeparkt worden war, Edens Wagen aus dem Weg zu räumen.
Charlottenburg hatte sich verändert. Die Studenten
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