Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Maserati abgehängt, mit hundertzwanzig Stundenkilometern auf Höhe der Knesebeckstraße, weil der Russe beim Versuch, einem rückwärts bis zum Mittelstreifen ausparkenden Lieferwagen auszuweichen, reichlich Tempo verloren hatte.
An diesem Tag hatte Selçuk allerdings keine Nerven für Autorennen; er war müde und nervös, weil Fatima nicht kam. Um sich abzulenken, telefonierte er alle fünf Minuten mit einem bulgarischen Kaufmann. Er verdiente sein Geld jetzt auch damit, abgelaufene Joghurtbecher und Fleischpakete nach Bulgarien oder Polen zu verkaufen, wo sie angeblich zu Tierfutter verarbeitet wurden.
Hinter der Schlüterstraße ging die Sonne unter; wenig später begannen die Straßenlaternen auf dem Kurfürstendammrosa zu glühen, dann wurde es Nacht. Fatima tauchte nicht auf und beantwortete seine SMS nicht. Selçuk hatte schlechte Laune und überlegte, ob er nicht doch noch ein paar Russen auf dem Kurfürstendamm versägen sollte, aber es waren keine Russen in Sicht.
Als Fatima um neun immer noch nicht gekommen war, stieg Selçuk in den Mercedes und fuhr nach Hause.
Seine Wohnung lag in Kreuzberg, im gleichen Haus wie die seines Großvaters; sie wohnten alle hier, nur Hüseyins Eltern waren aus der Stadt fortgezogen, in eine Gegend, in der es keine Türken gab.
Selçuks Großvater war zusammen mit seinem Bruder, Hüseyins Großvater, Anfang der sechziger Jahre nach Deutschland gekommen. Die Brüder hatten erst bei Schwarzkopf und dann bei Siemens gearbeitet; jeden Morgen fuhren sie mit dem Fahrrad zum Werk. Sie waren pünktliche, zuverlässige Arbeiter und nie krank; sie schickten Geld in die Türkei, und jeden Abend rollten sie den Gebetsteppich aus. Ihre deutschen Kollegen machten Karriere, sie nicht. Ihre Söhne eröffneten zusammen einen Gemüseladen, in dem man auch Tee trinken konnte; der Laden lief einigermaßen, aber nicht so gut, dass sie ihren Kindern die Nachhilfe, das Gymnasium und ein Studium hätten finanzieren können. Selçuk hatte viel Zeit bei seinen Großeltern verbracht, die kein Wort Deutsch sprachen, während seine Mutter in einer Industrieanlage die Treppenhäuser putzte. Die deutschen Wachleute machten Witze über sie und wurden böse, wenn irgendwo noch Schlieren zu entdecken waren; sie riefen, hier sei wieder auf die anatolische Art gefeudelt worden. Wenn die Mutter spätabends heimkam, weinte sie oft, und Selçuks Großvater wurde wütend und verbot ihr zu arbeiten. Selçuks Vater war ein sanfter, melancholischer Mensch. Er liebte seine Frau sehr und wollte nicht, dass sie putzen ging, aber sie bestand darauf; sie wollte etwas für ihre Söhne tun. Am Wochenende ging Selçuk mit seinem Vater und seiner Mutter Autos anschauen, die sie sich nicht leisten konnten. Hinterher tranken sie gemeinsam Tee.Es waren die einzigen Momente, in denen er seine Eltern glücklich gesehen hatte.
Selçuk hatte keine Lehrstelle bekommen, nachdem er wegen notorischer Renitenz und miserablen Mathematiknoten von der Realschule geflogen war; schon damals entwickelte er einen ausgeprägten Hass auf das Land, das seine Eltern unglücklich gemacht hatte. An den langen Nachmittagen seiner Kindheit, an denen er im Wohnzimmer Spielzeugpanzer durch die Kissenschluchten einer mattgrünen Velourscouch lenkte, hatte sein Großvater ihm von den Sommern an den Stränden von Ku¸sadası erzählt, und die Türkei war in Selçuks Vorstellung zu einem unwirklich schönen Traumland geworden. Aber wenn sie einmal im Jahr zu den Verwandten nach Görece fuhren, wunderten sich die zahlreichen Onkel und Tanten, wie schlecht Selçuk Türkisch sprach. In der Tat beherrschte er keine der beiden Sprachen, die ihn umgaben, richtig, deswegen redete er nicht gern. In die Türkei fuhr er selten; vor allem den Geburtsort seines Vaters mochte er nicht mehr, seit dort mehr deutsche Rentner als Türken lebten und mehr Deutsch gesprochen wurde als in der Straße in Berlin, in der er wohnte.
Er aß bei seinen Großeltern zu Abend, dann ging er wieder zu seinem Mercedes. Die Fahrerei machte ihn glücklich, der Motor, die Beschleunigung, die weichen, breiten Ledersitze, die vielen leuchtenden Bedienungsknöpfe, der herrliche Klang der Stereoanlage; alles funktionierte einwandfrei, wenn man es bloß antippte, ganz anders als in der Welt, die vor der Windschutzscheibe lag. Schon an der ersten Ampel entdeckte er einen BMW 540i, in dem vier dicke junge Männer saßen. Er zog auf die Busspur und setzte sich neben sie. Die
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