Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
waren verschwunden, und mit ihnen das Brasil in der Mommsenstraße und die Wohngemeinschaften in den Altbauten. Es war nicht mehr das Viertel der in dezentem Wohlstand alternden bundesrepublikanischen Mittelstandsgesellschaft. Jetzt waren die Russen da.
Sie saßen breitschultrig im Café Einstein oder um die Ecke bei den Italienern in der Schlüterstraße. Sie parkten ihre mattschwarzen Ducatis direkt vor der Tür und begrüßten sich mit krachenden Schlägen auf den Rücken. Manchmal verschwand einer, und dann kam ein neuer Russe mit einem schwarzen Porsche oder Ferrari. Die meisten von ihnen waren unter dreißig.
Die Schlüterstraße war das genaue Gegenteil der Mitte-Welt: Während die Leute dort mit fünfzig noch in spätstudentischen Outfits herumliefen, an sogenannten Projekten herumbastelten und so taten, als seien sie siebenundzwanzig, versuchten die jungen Russen, die sich hier, am anderen Ende der Innenstadt, versammelten, sogravitätisch und erwachsen dazusitzen wie Robert De Niro in The Untouchables , und während in Mitte überhaupt kein Geld verdient wurde, hatten die Jungs hier, auf welchem Weg auch immer, mit dreißig schon ihr erstes Zweihunderttausend-Mark-Auto zusammenverdient.
Selçuk saß im Café Einstein; vor ihm stand ein Stück Kirschkuchen, in das er senkrecht eine Gabel hineingerammt hatte; mit dem rechten Daumen hämmerte er auf seinem Mobiltelefon herum. Er hatte schwarze Augen und eine akkurat gescheitelte, glänzend schwarze Fighter-Frisur, die in einem ausrasierten Nacken endete und einen wirkungsvollen Kontrast zu seinen Schuhen bildete – er trug sehr große, weiße Turnschuhe, ein Modell, das es in Mitte nicht gab.
Selçuk wartete auf eine Frau, die er im Diwan kennengelernt hatte. Sie hieß Fatima und arbeitete in einer Kanzlei am Kurfürstendamm. Sein schwarzer Mercedes CL 600 parkte in der zweiten Reihe vor einem russischen Geländewagen, und er hatte zufrieden festgestellt, dass sein Auto die größeren Felgen hatte, 22 Zoll, verchromt: So was hatten die Russen schon mal nicht.
Am Heck war der Wagen neu lackiert; in Kreuzberg hatte ein wütender Fahrradkurier mit seinem Schlüssel den Kofferraum zerkratzt, weil Selçuk den Wagen wie immer auf dem Radweg geparkt hatte. Seine Familie parkte seit drei Generationen auf diesem Radweg; lange bevor der Fahrradkurier das rußige Licht seiner ostdeutschen Geburtsstadt erblickt hatte, stand hier der grüne Ford Transit von Selçuks Großvater. Sie hatten den Kurier ausfindig gemacht und ihn zu Hause besucht, und nachdem Selçuk ein Bügeleisen heiß gemacht und gedroht hatte, es dem Fahrradkurier wie einen Telefonhörer ans Ohr zu halten, hatte der anstandslos die Kosten der Lackierung sowie eine angemessene Aufwandsentschädigung übernommen.
Auch in dieser Augustnacht wurden auf dem Kurfürstendamm wieder illegale Viertelmeilenrennen gefahren. Die Fahrer kamen aus Kreuzberg und Moabit und hatten tiefergelegte, verchromte Wagen mitSportauspuff. In den Wagen saßen Türken, Russen, Libanesen oder manchmal auch ein paar Deutsche, aber der Auftritt war immer der gleiche: schwarz abgeklebte BMWs, vorn tiefer als hinten; verbreiterte Mercedeslimousinen mit Sechsarmfelgen; giftgelbe RS 4 mit schwarzen Heckscheiben, darin Männer mit schweren Ketten, Bomberjacken, gegelten Haaren, mit scharf ausrasierten Nacken und spiegelnden Sonnenbrillen; die Frauen trugen Stiefel und Lederröcke und Push-up-BHs und steckten in einem Kokon aus Chrom, Alcantara und Schwarzfolie. An jeder Ampel schwebte der rechte Fuß des Fahrers trittbereit über dem Gaspedal. Wenn die Ampel auf Grün sprang, trafen sich die Augen der Fahrer kurz, dann brachen die Motoren los, die Fasanenstraße flog vorbei (sechzig Stundenkilometer), die Knesebeckstraße (hundertzwei Stundenkilometer) und schließlich die Schlüterstraße (hundertdreißig Stundenkilometer), Taxen wurden rechts überholt, Busse geschnitten, bevor die Wagen am Adenauerplatz zum Stehen kamen und dann langsam wendeten, um die nächste Runde anzutreten.
Es ging natürlich auch um die Verärgerung der gutbürgerlichen Passanten, die Entgeisterung in den Gesichtern. Sie fuhren nächtelang um den Block, durch die Leibnizstraße vor zur Kantstraße und über die Fasanenstraße wieder auf den Kurfürstendamm. An jeder Ampel schauten sie zu den Wagen, die neben ihnen hielten, hinüber. Vor allem die Russen waren für Rennen zu haben; Selçuk hatte erst vor ein paar Tagen einen russischen
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