Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Dicken starrten grimmig auf seine Felgen. Er machte ein Zeichen, und der Fahrer nickte. Bei Grün gaben beide Vollgas.
Hüseyins Eltern waren in eine Wohnung im Grünen gezogen, in einen Ort, der Wünsdorf hieß. Im Zweiten Weltkrieg war in der Nähe das Amt 500 angesiedelt gewesen, eine der größten Nachrichtenzentralen der deutschen Heeresleitung; nach dem Krieg hatten die russischenBesatzer die Anlagen übernommen. Bis 1994 lebten ungefähr fünfzigtausend Russen dort, danach baute eine Entwicklungsgesellschaft die ehemaligen Kasernen zu Wohnhäusern um. Die Leute im Laden schauten Hüseyins Vater misstrauisch an, weil sie ihn für einen Russen hielten; als sie hörten, dass er Türke war, reagierten sie überraschend freundlich.
Anfang des Jahrhunderts, im Ersten Weltkrieg, stand in der Gegend sogar die erste Moschee Deutschlands. Sie war 1915 als Teil des sogenannten Halbmondlagers gebaut worden. Die muslimischen Kriegsgefangenen, die als Soldaten für England und Frankreich gekämpft hatten, wurden nach Wünsdorf gebracht und sollten dort zu Kämpfern gegen die Kolonialmächte ausgebildet werden; und um die Gefangenen davon zu überzeugen, dass die Deutschen auf der Seite des wahren Islam standen, baute man die Moschee. In den zwanziger Jahren hatte man sie nicht mehr gebraucht und wieder abgerissen.
Einmal fuhr Hüseyin mit Marie Bergsson zu seinen Eltern. Sie aßen im Restaurant Zum Zapfenstreich und wanderten durch die neue Siedlung. Zwischen den Kiefern stand ein seltsamer alter Bunker, der nicht wie ein Bunker aussah, eher wie ein Projektil, das selbst ein feindliches Ziel treffen will. Es war ein Prototyp, ein Entwurf des Ingenieurs Leo Winkel. Je weniger Dach ein Bunker hat, hatte Winkel gesagt, desto geringer die Gefahr, dass eine Bombe das Dach durchschlägt – und so wurden seine Bunker immer schmaler und höher, bis sie auf eine gespenstische, echohafte Weise die Form jener Raketen annahmen, zu deren Abwehr sie dienten.
Sie aßen Börek bei Hüseyins Mutter, dann fuhren sie wieder nach Berlin.
Ein paar Tage später lernte Hüseyin auf dem Kurfürstendamm Diana kennen. Sie arbeitete für eine PR-Agentur. Bei ihrem aktuellen Projekt unterstützte sie einen ostdeutschen Kulturmanager, der in Abu Dhabi ein Einkaufszentrum mit Theatern und anderen Kultureinrichtungen planen sollte. Diana war einunddreißig Jahre alt, blass und stark geschminkt; sie trug enge Blusen und anthrazitgraue Kostüme; ihreHaare waren streng nach hinten gekämmt. Sie hatte keine Wohnung; sie wohnte in einem Hotel in Mitte. Zweimal in der Woche flog sie um sechs Uhr morgens nach München, wo der Hauptinvestor seinen Stammsitz hatte, und alle zwei Wochen für ein paar Tage nach Abu Dhabi.
Als sie von Königstein nach Berlin gezogen war, hatte sie beim Theater arbeiten wollen, aber nach einem im neunten Semester abgebrochenen Studium der Theaterwissenschaften und einer im vierten Semester abgebrochenen Ausbildung zur Kommunikationsdesignerin, die ihren Vater etwa fünfzehntausend Mark gekostet hatte, war sie schließlich in einer Werbeagentur gelandet. Jetzt trug sie einen Aktenkoffer mit ihren Initialen und einen Gürtel von Moschino und sah zehn Jahre älter aus, als sie war.
Sie stand jeden Tag um sechs auf, machte eine halbe Stunde Yoga, schminkte sich und fuhr dann in die Agentur; sie ernährte sich fast ausschließlich von Joghurt und Take-away-Sushi. Nach der Arbeit, zwischen neun und zehn Uhr abends, ging sie ins Fitnessstudio. Dort trainierte sie neben verbitterten, schmallippigen, auf Laufbänder eintrampelnden Frauen, drängelte sich in den lächerlich kleinen Pool mit Gegenstromanlage, um ein paar Züge zu schwimmen, und ließ sich von einem Personal Trainer zu absurden Gleichgewichtsübungen überreden, von denen sie starke Rückenschmerzen bekam. An dem Tag, an dem Hüseyin sie kennenlernte, hatte sie vier Nächte hintereinander nicht länger als drei Stunden geschlafen.
Als sie in seinem Bett lagen, schien es ihm, als wäre ihre Haut sechs Grad wärmer als seine; nur ihre Hände, erzählt er, seien eiskalt gewesen und blieben es auch. Dann fuhr er sie mit Maries Mercedes zum Flughafen. Sie winkte ihm durch das graue Tor der Sicherheitskontrolle; sie sah gleichzeitig glücklich und verwirrt aus, und sie war sehr blass. Später schickte sie ihm ein paar hektische E-Mails aus Abu Dhabi.
Am nächsten Tag fuhr Hüseyin mit Marie ins Urban-Krankenhaus. Selçuk war in der Nacht mit einem Kieferbruch
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