Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
genetisch, kann ich nix dafür«, schrie Birgit und küsste den Neurologen. Dann versuchte sie, Günter die Bratwurst in den Kragen zu stecken. Der Neurologe kicherte.
Vor dem Haus versuchte ein Mann, die Motorhaube eines Opel Corsa aufzumachen. Warum der Klodeckel nicht hochgehe, rief er verärgert, er müsse dringend mal. Ein anderer hielt eine leere Bierflasche über die Motorhaube und rief feierlich: »Ich taufe dich auf den Namen Horst!« Dann ließ er die Flasche auf das Auto fallen. An das, was danach passierte, konnte sich am nächsten Morgen niemand mehr erinnern.
Am Morgen trafen Theresa und Marie auf der Terrasse einen Dicken mit feuchten Haaren, der über seinen Laptop gebeugt am Tisch saß. Er schrieb eine Keynote Speech zur Entwicklung der asiatischen Märkte für eine Konferenz, die seine Firma veranstaltete. Er sagte: »Morgen, Mädels.«
»Ich habe diese Typen so satt«, flüsterte Marie und zerrte Theresa am Arm. »Ich gehe nach Afrika. Ich halte das nicht mehr aus. Dieses Pferd wird noch jahrelang da stehen und an diesem Holzzaun kauen, und irgendwann wird der Zaun zerbissen sein und in zwei Teile brechen, und dann sind die Typen hier alt und grau und ihr Leben ist vorbei. Was für schreckliche Menschen das hier sind. Most! Ich will hier weg!«
Theresa, Hüseyin und Bergsson verbrachten den Rest des Sommers zu dritt. Sie fuhren zum Kreuzberg und zum Müggelsee; sie standen so lange im Wasser, bis sie eine Gänsehaut bekamen; auf der Frankfurter Allee fuhren sie nachts hundert und schauten, ob der Fahrtwind ihnen die Zigaretten ausblasen würde. Ende August wurde es kühler. Es regnete, und als Marie und Hüseyin nach einer unruhigen Nacht aufwachten, war es so dunkel wie im Winter.
Bergsson verschwand, als der Herbst kam. Er rief sie an, aber sie nahm nicht ab. Auf dem Display seines Mobiltelefons leuchtete für den Bruchteil einer Sekunde der Satz »Verbindung beendet« auf.
Über ihm wohnte eine Frau; er hörte sie in ihrer Wohnung auf und ab gehen; sie installierte neue Klingeltöne auf ihrem Mobiltelefon. Um zwei Uhr morgens hatte sie sich entschieden.
Am nächsten Tag sah er die Wiederholung der Bilder des Feuerballs, der aus dem Turm des World Trade Center platzte. Bergsson hatte ihr Mobiltelefon abgeschaltet. Die Spätnachrichten, die Sondersendungen, alle Sender zeigten die Türme. Selçuk meldete sich. Das World Trade Center war ihm egal, er war unglücklich; er hatte Fatima in der Saz Bar getroffen, aber sie wollte nichts von ihm wissen; er sei ein Prolet, hatte sie gesagt, und sie habe die Nase voll von Männern wie ihm.
Hüseyin ging viel schwimmen in diesem Herbst. Der Geruch des Chlors, die weißen Kacheln, die Bahnmarkierungen auf dem Grund des Wassers beruhigten ihn. Er tauchte ab und versuchte, so lange wie möglich unter Wasser zu bleiben.
Er fuhr zu Bergssons Wohnung, aber dort traf er nur auf einen etwa sechzigjährigen Mann, der einen lilafarbenen Wildlederblouson trug und ihn erstaunt musterte; um sein Kinn wuchs wie ein Hufeisen ein grauer Bart. Am Küchentisch saß eine Frau mit kurzen, rotgetönten Haaren. Es waren Theresas Eltern, die aus Lübeck zu Besuch gekommen waren. Weil Hüseyin nichts zu tun hatte, kam er mit zu einer Diskussionsveranstaltung im Hebbel-Theater.
Theresa fuhr; sie parkte den braunen Saab ihrer Eltern vor dem Theater. Sie konnte es schwer ertragen, wie ihre Eltern mit jedem Besuch betulicher und überforderter erschienen. Ihr Vater, der früher betont sportlich fuhr und einen der ersten Turbosaabs der Stadt besessen hatte, brauchte für jede Parklücke eine Ewigkeit, rangierte falsch, dirigierte die Mutter von einem Wagenende ans andere, die mit kleinen Schritten hin und her eilte und Positionsbestimmungen durchs Schiebedach schrie, die er nicht verstand. Oft brach er den Parkversuch verärgert ab und fuhr eine ganze Runde um den Block, während die Mutter noch immer in der zu engen Lücke stand. Sie wurden alt. Sie begannen sich wie Pinguine an Land zu bewegen und trugen mehr hautfarbene Kleidung als früher.
Vor dem Hebbel-Theater gab es einen Grillstand. Theresas Vater fuhr mit seiner Wurst durch die Senfpfütze auf dem Pappteller und nickte Hüseyin aufmunternd zu. Am Tresen lagen belegte Brötchen mit gelbem Scheibenkäse; dort, wo die Dekorationstomate verrutscht war, schimmerte der Käse feucht und weiß. Aus den Lautsprechern über der Bar schepperte »God Only Knows What I’d be Without You«.
»Das sind
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