Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
kleinen Schwarzen Löcher müssen nicht – wie von Stephen Hawking vermutet – sofort wieder zu Strahlung zerfallen, sondern könnten exponentielles Wachstum entwickeln, bis sie letztlich die gesamte Masse der Erde verschlingen würden. Im Atomendlager Asse, meldeten die Nachrichten, hatte es einen Wassereinbruch gegeben; das Lager sei nicht sicher. Unter der Erde schienen die Dinge kompliziert zu werden, aber das interessierte Berger nicht. Was ihn beunruhigte, war die Kursentwicklung.
Im Parkhaus schnappte ihm der Kollege aus der Abteilung Emerging Markets den letzten Platz auf Ebene eins weg. Er schoss in einem Viertürer mit zornig schrägstehenden Scheinwerfern an ihm vorbei, direkt in die Lücke; eine Sekunde später sprang er mit einem Satz aus dem Wagen, ein völlig lächerlicher Auftritt. Der Mann war eine Plage, ein kleinwüchsiger, drahtiger Mann, der, um ein paar Zentimeter an Höhe zu gewinnen, seine Haare in eine aufstrebende Helmform föhnte – alles an ihm wies auf eine pathetische, übertriebene Weise aufwärts, bog sich nach oben, die Kragenspitzen des zu weiten Hemdes, das Revers seines Sakkos, die lächerliche Stupsnase; an seinem Gürtel prangte ein Sonnensymbol.
Er legte in seiner Freizeit Karten, womit er hin und wieder auch versuchte, Frauen zu beeindrucken; aber er glaubte tatsächlich an die Wirkung von Magnetfeldern, Kristallen und Strahlungen.
Einmal im Büro angekommen, hämmerte der Mann schwungvoll eine E-Mail nach der anderen in die Tastatur. Seine Abteilung war dieeinzige, die einen Quartalsgewinn aufwies; auch deswegen hatte er eine unerträglich gute Laune.
Berger hatte ihn erst vor ein paar Tagen bei einem Abendessen getroffen. Die Gastgeber galten als einer der wichtigsten Kontakte zur SAPC.SA, mit der sie seit einiger Zeit intensiver zusammenarbeiteten. Er hatte sich auf die Einladung gefreut; als er gegen acht ankam, sah er zu seinem Ärger auch den Wagen des Kollegen aus der EM-Abteilung vor dem schmiedeeisernen Zaun parken.
Das Haus war erleuchtet, in der Eingangshalle wurden Mäntel abgenommen und Champagnergläser gereicht und Fleischbällchen auf Silbertabletts serviert. An den Wänden hing Kunst. Berger wurde herzlich begrüßt und in einen Raum geleitet, in dem man eine lange Tafel gedeckt hatte. Ihm gegenüber, unter einem raumgreifenden Gemälde, das eine nackte Frau auf einer Couch zeigte, saß die Gattin eines Vorstands. Links und rechts von ihrem Kopf prangte jeweils eine überdimensionierte gemalte Brust; aus Bergers Perspektive sah die Vorstandsgattin aus wie eine von Hugh Hefner überarbeitete Mickymaus. Er musste lachen, was ihm neugierige und irritierte Blicke einbrachte.
Während des Hauptgangs tat sich der Kollege aus der EM-Abteilung mit Geschichten über seine Tauchurlaube auf den Malediven hervor, er berichtete von weißen Haien und hinterhältigen Muränen, die es in den Riffs zu meiden gälte. Die Tischgesellschaft hörte ihm gebannt zu. Ein junger Baron nahm den Gesprächsfaden auf; er betreibe eine Schafszucht in Patagonien, leider seien die dortigen Schäfer alles andere als zuverlässig – andererseits sei er froh, dass er nicht in Afrika sei, ein Freund besitze dort eine Avocadoplantage, man mache sich keine Vorstellung, wie das Land unter den Leuten, die jetzt dort das Sagen hätten, verkomme! –, jedenfalls sei er, als er einmal wieder unten war, von einer Lanzenotter gebissen worden, Bothrops ammodytoides, präzisierte er, verwandt mit der Buschmeister, so was müssen sie da unten wissen – eine Sache, die tödlich ausgehen könne, mit knapper Not habe er es aus eigener Kraft in eine der lokalen Krankenstationen geschafft.
Ob er, Berger, in seinem Beruf auch so interessante Erfahrungen mache, fragte die Gastgeberin schließlich hinter ihrem gigantischen Rotweinglas hervor; vierzig neugierige Augen richteten sich auf ihn. Er erklärte, er interessiere sich mehr für Kursentwicklungen; als er die Enttäuschung in den Gesichtern der Gastgeber sah und der Fachmann für aufstrebende Märkte schon anhob, einen weiteren Tauchgang nachzuerzählen, riss er das Wort an sich und schmückte eine Begegnung mit einem Kampfhund und seinem Besitzer aus; er habe sofort einen Polizisten … Einige der Gäste schüttelten besorgt den Kopf, andere wandten sich desinteressiert ab; am oberen Ende des Tisches lachte eine Frau schrill auf, zwei Dicke steckten die Köpfe zusammen und begannen sich über etwas anderes zu unterhalten, »bin aus dem
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