Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Also: Sie haben ganz bestimmt von nichts gewusst?«
Berger starrte auf seinen Schreibtisch. Wusste der Vorstand etwas, oder bluffte er? Oder hatte ihn jemand … und warum war Tolkow nicht erreichbar gewesen? Aber bevor er etwas sagen konnte, nahm der Vorstand sein Sakko und verließ das Büro.
Um zehn Uhr eröffnete Berger die Versammlung. Hinter ihm flimmerte das Firmenlogo, das ihm beunruhigend unscharf erschien. Er begann seine Ansprache.
»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Aktionäre. Ich möchte Sie zu unserer ordentlichen Hauptversammlung begrüßen. Die Kapitalmärkte befinden sich, wie Sie wissen, gerade in einer turbulentenSituation. Trotzdem gibt es keinen Grund zur Panik. Lassen Sie mich kurz …«
Er sprach zwanzig Minuten, zeigte Tabellen, erklärte Entwicklungen und war insgesamt zufrieden mit seinem Auftritt; nur der bleiche Typ, der früher bei der IKB-Bank war und ihn dringend sprechen wollte, machte ihm Sorgen. Andererseits boten sich in der ganzen Aufregung Chancen für Geschäfte, mit denen er seinen Vorstand wieder würde besänftigen können …
Er hatte mit New York telefoniert. Wenn es stimmte, dass der Kurs von Goldman Sachs weiter einbrechen würde, könnte man … Berger versuchte, Tolkow zu erreichen, aber der ging nicht ans Telefon.
Berger galt als Quereinsteiger, als unerwarteter Star; er hatte, als er im Dotcom-Crash von 2001 einen Großteil seines Geldes verlor, in Immobilien investiert, was angesichts der Niedrigzinspolitik der US-Zentralbank eine gute Entscheidung war, er hatte sein Geld und das seiner Freunde und Anleger in Schiffsanleihen und Dubai-Immobilien gesteckt, und noch im Juli hatte ihn der Vorstandsvorsitzende auf eine Dienstreise nach New York mitgenommen und neue Deals vorbereitet. Sie waren am Sonntag in Manhattan mit einer Limousine abgeholt und über den Long Island Expressway in eine Villa gebracht worden, die irgendeiner Investment-Legende gehörte. Sie standen im Sand und tranken Champagner, ihm wurden Hände und Drinks gereicht; er sah das Meer und Gesichter mit sehr vielen weißen Zähnen, gelockerte Krawatten und versandete Lederschuhe im Dünengras. Später hatte sich eine, die aus Delaware stammte, bei ihm untergehakt; sie hatte einen Sonnenbrand und Sommersprossen und stark getuschte Wimpern und erzählte ihm von Leon Levy und von Paulson, Paulson war ihr Idol, er hatte mit seinem erfolgreichsten Produkt 600 Prozent Rendite erzielt, hieß es; sie träumte davon, für Paulson zu arbeiten. Sie waren hinter die Villa gegangen, wo man den Lärm der Atlantikwellen und das Rumoren der Liveband vorn auf der Hauptterrasse nur noch leise hörte, und zum Abschied hatte sie ihm ihre Visitenkarte(Büttenpapier mit Prägedruck, eine Adresse in Manhattan mit der üblichen einschüchternden Menge an Namen und Abkürzungen) und die Nummer ihres privaten Blackberry gegeben. Am nächsten Tag hatte er, während die Endzwanziger mit den aufgestellten Hemdkragen, die er am Abend zuvor kennengelernt hatte, in ihren Büros in Midtown Millionendeals eintüteten oder in den Sand setzten und Schuldverschreibungen ausstellten und Zinszahlungen für gefälschte Wechsel bedienten, in einem Deli an der siebenundvierzigsten Straße gesessen und auf sie gewartet, aber sie war nicht gekommen.
Trotzdem hatte es so ausgesehen, als ob das eigenartige, dunkle, hysterische Jahrzehnt, dass mit dem großen Crash der New Economy und dem Einsturz der Türme an der Wall Street begonnen hatte, ein heiteres Ende finden würde, aber offenbar war das nicht der Fall.
Es war elf Uhr, Berger saß wieder am Schreibtisch. Draußen flimmerte die Hitze über dem trägen Fluss, und die Verfahrenheit seiner Lage baute sich in einem bedrohlichen Breitwandformat vor ihm auf.
Als er ein Kind war, hatte er als hoffnungsvolle Entdeckung in seinem Fußballverein gegolten, mit fünfzehn als Ausnahmetalent am Schlagzeug und an der Gitarre; man prophezeite ihm eine bedeutende Karriere als Musiker. Man hatte in seine Bildung, seine Talente investiert – aber dann hatte er schließlich doch Jura und Wirtschaftswissenschaften in Lausanne studiert, und jetzt saß er in der verdammten SPTC-Abteilung fest und beeindruckte mit seiner Gitarre nur noch die Mütter beim Basteltag im Kindergarten. Paulson hatte auf Leerverkäufe von Subprime-Hypotheken gesetzt, er hatte, dachte Berger, alles richtig gemacht, das Vermögen seines Fonds lag etwa bei 28 Milliarden Dollar. Berger hatte solche Ideen nicht
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