Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
gehabt.
Wie immer in diesen Momenten beugte er sich ein wenig vor, um durch die Lamellenjalousie vor seinem Fenster den verschrammten Mercedes 350 SL zu sehen, den er sich als Sommerauto gekauft hatte – eine Schrottkarre genau genommen, aber mehr Geld konnte er nach dem Kauf einer Zweihundertzwanzig-Quadratmeter-Wohnung mit Dachterrasse nicht für einen Zweitwagen ausgeben, und dieses Autowar das am wenigsten entwürdigende Fahrzeug, das er für so wenig Geld bekommen konnte.
Dann, gestärkt vom Anblick des Cabriolets, das ihn an seine unkomplizierteren und euphorischeren Zeiten erinnerte, versuchte er, seine Frau zu erreichen.
Sie hatten am Freitag übers Wochenende aufs Land fahren wollen, und während sein Koffer seit 14.45 Uhr einladebereit an der Wohnungstür stand, war Simone um halb acht Uhr abends immer noch damit beschäftigt, ihre Sachen zu packen, und zeigte keinerlei Anzeichen von Schuldbewusstsein, im Gegenteil. Sie fand Zeit, auf dem Balkon eine Zigarette zu rauchen (5 Minuten), mit einer Freundin, die einen Mann kennengelernt hatte, zu telefonieren (23 Minuten, zwei Zigaretten), ihre ohnehin espressodunklen Augen in einer ausladenden, zeitintensiven Bemalungs- und Puderprozedur optisch ins Riesenhafte zu vergrößern (10 Minuten), am Kiosk die Gala und die Bunte zu kaufen (13 Minuten), im Badezimmer, wieder telefonierend, nach einem bestimmten Body-Öl zu suchen (17 Minuten) und sich ihre Beine zu rasieren (7 Minuten) und einzucremen (6 Minuten). Während dieser einundachtzig Minuten, die nach Beendigung des eigentlichen Packvorgangs bis zur Abfahrt verstrichen, hatte er mit seinem zweijährigen Sohn Karl gespielt, dessen vergnügtes Quietschen ihn über die Verzögerung einigermaßen hinwegtröstete, während Mina, Simones Tochter aus einer früheren Beziehung, auf dem Sofa liegend seit Stunden mit ihrem Freund Jago telefonierte, was er ihr nicht zum Vorwurf machen konnte, schließlich war sie die Tochter ihrer Mutter.
Simone war sagenhaft unordentlich. Sie verwandelte binnen kürzester Zeit die gesamte Wohnung in eine entropische Schreckenswüste: Auf dem Küchentisch, den er am Donnerstagmorgen aufgeräumt hatte, türmten sich bereits am Donnerstagabend ein altes Ladegerät, eine halbleere Packung Einwegrasierer, sieben Tampons, drei Stabilo-Pens, eine Plastikblockflöte, das Kündigungsschreiben für das Kiesertraining, ein Einkommenssteuerbescheid, ein rosafarbener Lipgloss, eineDose Niveacreme, ein offensichtlich benutztes Taschentuch, eine Rolle Geschenkpapier, ein Tesafilm, eine umgekippte Packung Nesquick, deren Inhalt sich über den Einkommenssteuerbescheid verteilte. Außerdem, unter und neben dem Tisch: zwei verschiedenfarbige Kindergummistiefel, ein Bobbycar, eine zerbrochene Rassel, zahlreiche Reiskekskrümel, ein vom Tisch gefallenes, mit der feuchten Seite nach unten gelandetes, inzwischen angetrocknetes Marmeladenbrot, ein nichtbeachtetes Aufforderungsschreiben des Kindergartens, in Karls Jacke ein Schild mit der Aufschrift »Karl« zu nähen, ein Stapel Schmutzwäsche, ein Bügelbrett, ein brauner BH, ein Papierlocher und eine Ray-Ban-Sonnenbrille mit nur einem Bügel.
An diesem Tisch, in dieser Küche, das heißt, in ihren noch begehbaren Teilen, hatte es am Donnerstagabend einen Streit über a) das Aussehen der Wohnung und b) die Frage gegeben, ob man Karl schon jetzt für den Waldorf-Kindergarten anmelden solle. Er war dagegen. Er war auf einer Waldorfschule gewesen, er hatte den ganzen Irrsinn mitgemacht, sie hatten ihm ein persönliches Mantra gegeben, das er niemandem verraten dürfe, das nur er besitze, und natürlich hatte er es gleich seinem besten Freund verraten und feststellen müssen, dass der das gleiche Mantra hatte. Der Freund war später nach Brasilien gegangen und Trommler geworden, er hatte sich in Pernambuco einer Candomblé-Sekte angeschlossen und dann einen Nervenzusammenbruch bekommen. Sie hatten sich also zuerst über Waldorfschulen gestritten, dann über den unnützen Krempel, den sie bei Manufactum gekauft hatte, und in diesem Zustand erregter Zermürbung fuhren sie wie fast jeden Freitagabend aufs Land.
Eine Freundin seiner Frau hatte dort ein Haus, und obwohl sie beide die Freundin nicht besonders mochten – Simone verbrachte sogar sehr viel Zeit damit, zu erläutern, wie sehr sich die Freundin zu ihrem Nachteil verändert habe –, fuhren sie immer wieder hin, angeblich, weil es den Kindern dort so gut gefiel. Den Kindern war das
Weitere Kostenlose Bücher