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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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irgendetwas über eine Freundin, die sie wiedergetroffen hatte, und er überlegte, ob er sie nicht einfach nach Hause bringen und noch allein in eine Bar gehen sollte, aber dann schwankte ein Betrunkener auf sie zu und verwickelte sie in ein Gespräch; wer sie seien, woher sie kämen, ob sie frisch verheiratet seien? Sie improvisierten sich eine gemeinsame Geschichte zusammen, die sie dem Trinker erzählten: Er, Bellmann, sei ein dänischer Musikproduzent, der in New York arbeite; Phyllis, seine Frau, sei Sängerin, sie würde bald zusammen mit ihrer Freundin Joan Baez – er habe vielleicht von ihr gehört? – ein Konzert geben. Der Betrunkene war beeindruckt. Er glaubte jedes Wort.
    Bellmann war nicht mehr zu bremsen. Er erfand alles neu. Er redete, als sei er schon immer diese fremde Person gewesen. Phyllis hatte Spaß an der Geschichte und hängte sich mit einem Arm an seinen Hals, behauptete, Bellmann habe vor seiner Karriere als Produzent als Rinderzüchter in Ohio gearbeitet, um sich sein Musikstudium zu finanzieren; er nahm, während er die völlig irrsinnige Geschichte ihres letzten großen Erfolgs in Amsterdam erfand, ihre Hand, und als sie nach einer Stunde in die nächste Bar gingen (»Wir müssen los, wir müssen jetztdringend Joan anrufen«, hatte Bellmann dem beeindruckten Besoffenen gesagt), legte sie ihren Arm um seine Taille. In der Bar bestellte er zwei Martini und ging zur Jukebox; er gab ihre Geburtstage ein, Nummer 235 für den 23. Mai, Nummer 106 für den 10. Juni. Bei Phyllis’ Geburtstagsnummer spielte die Maschine »Teddy Bear« von Elvis, bei ihm irgendetwas von Freddy Quinn.
    »Wir machen noch ein Spiel«, sagte sie schließlich. »Ich fahre. Du verbindest dir die Augen und sagst alle paar Minuten rechts oder links, und ich biege dann ab, wohin du gesagt hast.«
    Ein paar Minutenspäter knotete sie ihm ihr Halstuch um die Augen und startete den Mercedes. Er saß auf dem Beifahrersitz. Er sagte rund dreißigmal »links« und »rechts«; als er eine halbe Stunde später das Tuch abnahm, war die Stadt verschwunden: Am Straßenrand standen windschiefe Büsche und ein paar Kühe, die in die Stille der Nacht starrten.
    Obwohl das Spiel zu Ende war, fuhr sie weiter. Der Wind riss ihr Haar in die Höhe, für ein paar Sekunden sah es aus wie ein Bündel Antennen, das Befehle aus dem All empfing. Sie fuhr schnell, und obwohl seit zwei Monaten ein Tempolimit auf Landstraßen galt, überholte sie alle Lastwagen und auch ein paar Limousinen. Er fror. Sie machte das Radio an, sie kannte die Lieder und sang laut mit; er schlief einmal kurz ein und wunderte sich dann, dass sie immer noch weiterfuhren. Es war drei Uhr morgens, die Landschaft war geisterhaft flach. Um vier Uhr wurde sie müde. Jetzt fuhr er, aber er fuhr nicht nach Hause.
    Als sie an der Rampe des Autozuges standen, der die ersten Urlauber vom Festland auf die Insel brachte, wurde es gerade hell. Phyllis war vom Geräusch der hochklappenden Metallrampen aufgewacht. Sie saß im Schneidersitz neben ihm und schaute aus dem Fenster. Ein paar Rotklinkerhäuser zogen vorbei, ein weißes Schild, auf dem in schmalen Buchstaben ein Ortsname stand. Ein paar Schafe kauerten, wie auf einer Abschussrampe, schräg am Deich. Dann kam das Wattenmeer. Es war Ebbe um diese Zeit, man sah die Rillen, die das Wasser im grauen Schlick hinterlassen hatte. Dünne Wolken zogen über das Land, Richtung Norden.
    Später läuft er über das warme Holz der Bohlen, die durch die Heide bis zum Parkplatz führen, dann durch den weichen, fast weißen Sand. Es ist still, ein paar Möwen treiben quer am Himmel. Sie läuft die Dünen hinab, der Wind weht ihm feinen Sand ins Gesicht.
    Der Strand ist leer. Sie steht breitbeinig unten am Ufer, sie hat die Hosenbeine hochgekrempelt und sammelt Muscheln.
    In einem Strandlokal bestellen sie einen halben Hummer und trinken dazu erst zwei Gläser und dann doch eine ganze Flasche Wein. Beim Essen fällt ihr das offene Haar ins Gesicht; wenn sie etwas sagt, sieht er nur einen dunklen Vorhang. Sie schlägt die Beine übereinander, sie sind sehr braungebrannt, so, als ob sie hier am Strand leben würde. Er macht ein paar Fotos von ihr und sich, wobei er den rechten Arm mit der Kamera ausgestreckt in die Luft hält, eine alberne Geste, wie jemand, der sich aus größtmöglicher Entfernung selbst erschießen will.
    Auf diesen Fotos sieht man später: ihn selbst, sein von der Anstrengung des Armausstreckens und Abdrückens verzerrtes

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