Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Gesicht und ihre Stirn (er hatte die Kamera zu hoch gehalten), dahinter eine Dünenlandschaft, den Himmel über dem Meer, der klar ist an diesem Tag, nur über den Krüppelkiefern, die bis an die Dünen reichen, zieht ein Schleier aus feinen Wolken auf; schließlich ihren nackten Rücken in der Sonne, kleine Leberflecke, die sich wie Sommersprossen verteilen.
Sie verbringen diesen Tag am Strand. Nachdem sie im Meer gebadet haben, schlafen sie in einer Sandmulde. Am Nachmittag stellt er fest, dass er an unmöglichen Stellen einen Sonnenbrand hat.
Im Hafen stellt sie einen Fuß auf den Vorderreifen des Mercedes, um sich ihren Turnschuh zuzubinden. Er macht noch ein Foto. Es ist zu heiß am Watt, sein Hemd ist nach ein paar Schritten durchgeschwitzt.
Sie entschließen sich, zurück an die Seeseite zu fahren. Um diese Zeit sind wenige Autos unterwegs; die Straße liegt hellgrau und leer im Sonnenlicht. Häuser ziehen vorbei, Reetdächer, die wie seltsame Frisuren aussehen, Heide, Ginster, weiße Sanddünen. Ihr nasses Haar hinterlässt einen Fleck aus Salz und Sand auf der Kopfstütze des Mercedes.Dann trinken sie einen Wein in einem Restaurant am Pier. Im Hintergrund spielt eine Countryband, ein paar betrunkene Skipper stehen an der Bar, dann gibt es einen Tumult, weil irgendein Schlagersänger mit seiner Harley-Davidson aufkreuzt.
Sie sagt, die Insel erinnere sie an die Strände von Long Island, sie erzählt von Henry Hudson und Adrian Block, von den Indianerstämmen, den Massapequa, Ronkonkoma und den Montauk; heute gäbe es nur noch einige Poosepatuck, in einem Reservat im Suffolk County. Er blinzelt in die Sonne und stellt sich wilde Indianer vor, die am Strand entlangreiten, aber dann fällt ihm ein, dass sie gar keine Pferde hatten. Phyllis’ Silhouette zeichnet sich gegen den weißen Sand ab, die Brauntöne ihres Oberteils, ihre dunkle Haut erinnern ihn an den dunklen Backstein von New York.
Neben der Bar parkt der Schlagersänger seine Harley-Davidson; er trägt eine Lederjacke mit Fransen und Cowboystiefel, auch sie sind weiß. Während er Hände schüttelt, sackt der Ständer des Motorrades im Sand ein, und die Maschine stürzt mit einem Krachen um, so, als sei sie aus großer Höhe herabgefallen.
Er muss jetzt zurück. Es ist fast Abend, aber sie möchte unbedingt noch einmal im Meer schwimmen. Er ist übermüdet, in einem seltsamen Zustand zwischen Schläfrigkeit und Erregung, erfüllt von dem Gefühl einer geglückten Flucht, worum es sich natürlich nicht handelt, schließlich sind sie schon wieder auf dem Rückweg dorthin, wo sie herkamen – Ingrid, denkt er jetzt zum ersten Mal, ist morgen Mittag wieder da: Morgen Mittag würde er wieder am Pool sitzen.
Sie parken im Strandhafer bei Buhne 16. Der Wagen ist komplett eingesandet: Sand in den Rillen der dunkelblauen Ledersitze, Sand im Zündschloss, beim Herumdrehen des Schlüssels knirscht es. Er entdeckt einen milchigen Fleck, den ihr mit Sonnencreme eingeriebenes Knie an der Seitenscheibe hinterlassen hat, und den Abdruck von zwei Zehen rechts unten in der Windschutzscheibe. So etwas macht ihn normalerweise wahnsinnig, jetzt betrachtet er die Spuren mit einer Andacht, als handle es sich um prophetische Schriftzeichen. Auf demWeg zum Strand sehen sie den Schlagersänger mit einem Fischbrötchen in der Hand. Er wirkt ziemlich mitgenommen. Als sie sich umdrehen, sehen sie, wie er sich hinter einer Krüppelkiefer übergibt.
Am Strand ziehen sie sich aus. Seine Haut, das fällt ihm jetzt, im hellen Sonnenlicht, unangenehm auf, ist weiß, sie sieht aus wie Erde unter einem Stein, den man nach dem Winter hochhebt.
Sie ist eine gute Schwimmerin, und sie bleiben lange im Meer. Als sie aus dem Wasser kommen, ist er erschöpft. Sie bewirft ihn mit Sand, er versucht, sie zu fangen; sie gehen beide zu Boden. So bleiben sie eine Zeitlang liegen.
Als er aufwachte, war es dunkel: Sie waren am Strand eingeschlafen, der letzte Zug zum Festland hatte längst die Insel verlassen. Ihre Sandalen und seine Schuhe (hellbraunes italienisches Leder, neunundfünfzig Mark) lagen in einer turbulenten Anordnung, wie Autos nach einer Karambolage, im Sand. Das Wasser war schwarz, und ein kühler Wind wehte vom offenen Meer und rupfte am Sandgras auf der Düne. In einigen Häusern brannte noch Licht. In diesem Moment dachte er an Ingrid, wie sie die Blumen goss und das Silber polierte und zwei Drinks machte; wie sie eine Platte von Johnny Tillotson auflegte, die sie
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