Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
ihm am Vormittag in der Stadt gekauft hatte. Er sah sich selbst, wie er ihr einen Tee ans Sofa brachte und ein Kännchen mit Zitronensaft dazu; wie sie ihm beim Fernsehen, in eine Kamelhaardecke gewickelt, einen Apfel und ein paar Pflaumen schälte; wie sie den Daumen an die Messerspitze drückte und die bittere Haut der Pflaumen abzog. Möwen wehten am Himmel vorbei. Ihm war kalt.
Dann sah er, wie die Sonne über den Dünen aufging. Phyllis schlief noch, er machte ein Foto von ihr.
Auf diesem Foto, das er heute zusammen mit den anderen in einer Mappe aufbewahrt, sieht man eine junge, schlafende Frau, die, zusammengerollt in einem Herrenmantel, im Sand liegt, als sei sie aus dem Weltraum gefallen, neben ihr verteilt die beim Eintritt in die Stratosphäre fortgerissenen Kleidungsstücke.
Sie hatte, das sieht man auf den Fotos, ein schönes Gesicht. Warum schön? Zum Beispiel die Nase. Wäre sie nur wenige Millimeter länger und etwas dünner, etwas blasser, mit etwas größeren Hautporen, wäre sie nicht nur nicht schön, sondern hässlich. Es sind wenige Millimeter, die alles entscheiden; eine etwas längere Nase, ein zwei Millimeter tiefer hängendes Lid, schmalere Lippen, größere Ohren, eine falsche Falte, die ihrem Lächeln etwas Bitteres gäbe: Er hätte nichts an ihr gefunden. Insgesamt sind es vielleicht vier Zentimeter Haut, fünf Gramm Fett, vier kleine, dämliche Muskeln am Mund, die darüber entscheiden, ob jemand hübsch oder hässlich, beliebt oder für alle vollkommen uninteressant ist, ob er jemanden findet, mit dem er glücklich werden kann, und ob die Menschen bereit sind, sich für diese Person ins Unglück zu stürzen oder eben nicht.
Er dachte an Ingrid und ihre beste Freundin, wie sie nebeneinander auf dem Sofa saßen. Die Freundin war hässlich, man konnte es nicht anders sagen: weißlicher, glänzender Teint, ein kleiner Hautsack, im Begriff, ein Doppelkinn zu werden, hervortretende wässrige Augen. Sie war verzweifelt. Männer waren höflich zu ihr, aber ergriffen früh die Flucht, wenn sie ihnen zu nahe kam, und auch wenn alle beteuerten, wie beliebt sie sei, dass die gängigen Schönheitsvorstellungen doch Unsinn wären und es so etwas wie eine aparte, andersartige Schönheit gäbe, spürte sie den körperlichen Widerwillen, den sie bei den meisten Menschen auslöste. Vier Zentimeter. Fünf Gramm. Ein paar Knorpel an der falschen Stelle. Es war, genau genommen, lächerlich. Die wenigen Millimeter am Mundwinkel, ein paar Falten an der Nase entscheiden darüber, ob jemand sehr schön ist oder hässlich, ob sein Leben misslingt. Wenige Millimeter. Seltsame Gesetze.
Vielleicht überlegte er an diesem Strand, an dem er auf das versandete Gesicht von Phyllis starrte, zum ersten Mal, was man an einem normalen Lebewesen wegschneiden, ergänzen, durchbohren, absaugen, auffüllen und polstern müsste, damit es wie sie aussähe.
Es war jedenfalls in dieser Zeit – zumindest stellt er es Jahrzehnte später, als es Ingrid und Phyllis längst nicht mehr gibt in seinemLeben, so dar –, in der er sich mit der amerikanischen Society of Plastic and Reconstructive Surgeons in Verbindung setzte und beschloss, sich nicht nur mit rekonstruktiver, sondern auch mit ästhetischer Chirurgie zu beschäftigen, eine Entscheidung, die ihn in den kommenden Jahrzehnten zu einem reichen Mann machen sollte.
Er reiste nach Chicago zu einem Kongress für Plastische Chirurgie und nach Boston, wo er hoffte, Phyllis wiederzusehen, die aber spurlos verschwunden war. Er traf in New York den großen alten Chirurgen Gustave Aufricht und begann dann selbst mit dem nach Aufricht benannten Instrument zu arbeiten, klappte Weichteilmäntel hoch, meißelte Höcker flach, raspelte, ließ sich von einer staunenden Schar Assistenzärzte Scheren und Häkchen reichen – »wenn die Haut abpräpariert ist«, sagte er den Studenten, »gehst du rein und hebst das Weichteil hoch, geben Sie mir jetzt bitte mal den Aufricht«. Er wurde eine Kapazität im Kampf gegen die Höckerlangnase. Mit entschlossenen Schnitten hob er die Haut der Nase vom knöchernen und knorpeligen Skelett ab, meißelte Nasenbeine durch, legte Schienenverbände an und Knorpelspäne in Sattelnasen ein.
All das, sagt er, hatte in diesen Tagen, auf der Insel, seinen Anfang genommen. Er hatte überhaupt in jenen vierundzwanzig Stunden mehr getan, entschieden – wenn man überhaupt von Entscheidungen reden kann – und erlebt als sonst in vier Monaten. Es kam ihm
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