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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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ein Tuch und steckte ihn in die Tasche seines Mantels. Als die Kollegen auf seinem Flur gegangen waren, rauchte er ihn am offenen Fenster. Er bekam ihm nicht.
    Bellmann versuchte, den Vortrag eines befreundeten Kollegen zu lesen, aber die Bilder und Fachbegriffe drehten sich wie ein Ventilator in seinem Kopf und richteten ein unfassbares Durcheinander an, er sah die Worte Recessus infundibularis, Hypophysialis superior, Nucleus basalis vor sich kreisen, dann seine Frau im Bademantel, ihr platinblondes Haar, das in der Sonne leuchtete; die kortikomediale Gruppe, Phyllis’ ironische Augenbrauen; die basolaterale Gruppe hat Faserbeziehungen mit der präpiriformen und entorhinalen Rinde; ihre Brust, die sich im Schlaf hob und senkte, ein Bein, das aus dem Bett heraushing, ihre vom Schlaf leicht gerötete Wange; das Corpus amygdaloideum ist reich an peptidergen Nervenzellen, im Nucleus centralis ist vor allem Enkephalin und Corticoliberin nachzuweisen. Er dachte an Ingrid, wie sie eine Torte aß, er sah Ingrid einen Nistkasten für Vögel basteln und sich mit einem Hammer auf den Finger schlagen – wie sie sich mit dem blutenden Finger durchs Haar fährt und wie das Blut eine rote Spur auf dem platinblonden Haar hinterlässt –, sah dann wieder Phyllis, wie sie am Strand ins Wasser rennt, die aktive kortikomediale Kerngruppe donnerte durch seinen Kopf, die verkümmerte laterale Kerngruppe schob sich zwischen unscharfe Bilderverschiedener Frauen, er spürte eine eigenartige Rührung, dann drehte das Wort Amygdala eine Sonderrunde und trat in der Gestalt von Phyllis wieder auf, Amygdala, die Schöne, die unter dem Busch sitzt, in dem die Zikaden in der Mittagshitze herumlärmen, Tochter des mandelkernäugigen Rinencephalon, Blitze zuckten am Ende der Galaxien, grünlich leuchtender Strom zischte über seine Netzhaut …
    Er war vollkommen hinüber.
    In der Stille seines Zimmers im vierten Stockwerk eines langgezogenen Krankenhausseitentrakts, versteckt hinter einem Lamellenvorhang, einem orientierungslos durch den Raum schlingernden Gummibaum und einem braunen Couchtisch, packte ihn die Panik, er sei dabei, verrückt zu werden, aber als er schließlich aus einem unruhigen Dämmer erwachte, deutete nichts darauf hin, dass sich etwas verändert haben könnte. Die Sonne war gesunken, die Dächer der Stadt lagen unter einem farblosen Abendhimmel.
    Er brachte die Fotos, die er auf der Insel gemacht hatte, zum Entwickeln und kaufte sich Leonard Cohens Songs from a Room, legte sich aufs Sofa, und Leonard Cohen sprach wie ein Arzt, wie ein Vater, mit einer warmen, sanften Stimme auf ihn ein, whatever you give me, I seem to need so much more / Just win me or lose me / It is this that the darkness is for.
    Als er aufwachte, hörte er das Vadummvadummvadumm der Nadel, die in einer Rille am Ende der Platte festhing. Draußen war es dunkel. Die Kühe standen, in verschiedene Richtungen schauend, über das Feld verteilt. Er legte das Duett aus Händels L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato auf. Dann musste er sich übergeben, stolperte zur Garage, startete den Mercedes, fuhr drei Stunden lang sinnlos durch die Gegend und hörte ein paar alte Elvis-Presley-Kassetten. Danach ging es ihm besser.
    Am nächsten Tag bekam er die Fotos. Leider war Phyllis, die deutlich kleiner war als er, nur auf drei Bildern zu erkennen; auf den anderen sah er nur ihren Haaransatz, darüber sein eigenes, von einem hilflosen Grinsen verzerrtes Gesicht: ein Mann, der sinnlos gute Laune hat, mit einem schiefen Kirchturm im Hintergrund. Er warf dieseBilder weg; die anderen drei (zwei zeigten sie schlafend) versteckte er im Serviceheft des Mercedes (wenn es einen Ort gab, an dem Ingrid nicht nachschaute, dann dort).
    Er rief Phyllis an; sie war nicht da. Sie war auch nicht im Krankenhaus.
     
    Ingrid kam wieder, und alles war wie immer. An den Wochenenden fanden Gartenpartys statt, er öffnete Chiantiflaschen und stellte kleine Tische zwischen die Liegen im Garten, sie machte Kartoffelsalat und Kassler und belegte Brötchen mit Schinken und halben Eiern und strich Heringspaste unter die Anchovis, er setzte eine Pfirsichbowle an und schenkte an der Bar, die nur durch eine gläserne Schiebetür vom Pool getrennt war, Gin Tonic, Whiskey Sour und Wodka aus, und Ingrid trank mit ihren Freundinnen Eierlikör. Er warf den Grill an und sah den Flammen zu und fühlte sich wie das Kotelett, das auf dem Rost gar wurde; er grillte sich selbst. Manchmal stolperte seine

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