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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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über die Geschichte der simultanen intranasalen Korrektur des vorderen Septums und der Abtragung von Höckern, er diskutierte mit Zahnärzten die operative und orthopädische Behandlung von Patienten mit Gesichtsfehlbildungen, und nach der Arbeit, bevor er nach Hause fuhr, saß er in der Tiefgarage und holte das Foto von Phyllis aus dem Serviceheft. Sie erinnerte ihn an etwas, aber er wusste nicht, woran.
     
    In diesen Tagen ging er nachts, wenn es schon kühl war, zur Garage und fuhr durch die Stadt, ohne Ziel, er fuhr nur und schaute und tankte Benzin nach und dachte an Phyllis. Sie gab jedem nur eine Chance; es waren zu viele, die sie kennenlernen wollten, sie war zu neugierig, sie hatte keine Zeit für Neuauflagen. Er rettete sich in Gedanken zu Ingrid, die immer bei ihm war, und dann, als er es fast geschafft hatte, schob sich, wie in einem kaputten Filmprojektor, Phyllis’ Bild hinter, über und in das von Ingrid: Er dachte an Phyllis’ Haar undan Ingrids helle und nasse und frierende Haut, die beiden Frauen verschmolzen zu einer einzigen, und er wusste nicht, was er tun sollte.
     
    Einmal noch rief Phyllis ihn an, abends, als er zu Hause war. Sie hatte in Philadelphia in einem Krankenhaus einen Job bekommen.
    Er war auf diesen Anruf nicht vorbereitet gewesen; wochenlang hatte er sich ausgemalt, was er sagen würde, wenn sie sich meldete, wie er ihr großzügig ihr mehrmonatiges Schweigen verzeihen würde, aber jetzt hatte er auf dem Sofa vor dem Fernseher geschlafen und sprach mit belegter Stimme, er wunderte sich selbst über diese Stimme, die so tat, als gehörte sie jemand anders, er hörte sich »great« und »really« krächzen, so, als schwebe er oben links über sich selbst, und in seinen Ohren vermischte sich das Rauschen des Blutes mit der Stimme am anderen Ende, mit dem Klicken eines aufgelegten Hörers, mit der kalten anderen Stimme hinter ihm: Wer das jetzt wieder gewesen sei, um diese Uhrzeit. Ingrid stand im Flur, sie trug weite Pyjamahosen, ihre Haare standen ihr vom Kopf ab. »Ein Kollege aus Philadelphia«, sagte er.
     
    Ein Jahr später trennten sie sich. Ingrid heiratete einen Mathematikprofessor, mit dem sie Zwillinge bekam, und zog nach Heidelberg. Bellmanns Mutter zog in eine Seniorenresidenz.
     
    Bellmann erinnert sich kaum noch an diese Zeit, nur an den 16. August 1977 und daran, was an diesem Tag geschah. Er war lange im Krankenhaus gewesen, ein paar Brüche mussten operiert werden, keine komplizierten Sachen, trotzdem hatte es zu lange gedauert. Als er vom Gelände fuhr, spielten sie auf AFN ein paar Songs von Elvis. Es war der Sommer von Disco und der Sommer des Terrors, Jürgen Ponto war erschossen worden, im Radio brachten sie Interviews zur Sicherheitslage der Nation, danach spielten sie normalerweise »Lay Back In The Arms Of Someone« oder »Yes Sir, I Can Boogie«, aber nicht Elvis.
    Bellmann freute sich, er zirkelte den offenen Wagen im Takt um die Kurven, aber dann brach die Musik ab, und eine Stimme sagte, dieshier sei eine Sondersendung für den King (der Sprecher sagte mehrfach King statt Elvis; das Wort klang, als falle ein Löffel auf den Boden), denn der King sei tot: Herzstillstand durch zentrales Versagen der Atemorgane. Bellmann bremste und stellte den Motor ab. An einem Alleebaum verblasste ein altes Wahlkampfplakat der CDU; »Freiheit statt Sozialismus« stand dort, daneben zeigte ein anderes Plakat Helmut Schmidt; Bellmann sah die Konturen seiner helmartigen, asymmetrischen Frisur, während der Moderator noch zwei- oder dreimal »King« sagte und dass der King tot sei.
     
    Er blieb allein im Bungalow. Blätter fielen, Schnee trieb vorbei, zwei Jahre vergingen. Sein Freund Bernd starb an einem Herzinfarkt. Der Mercedes bekam ein paar Rostflecken, an dem Riss im Lederpolster des Beifahrersitzes bildete sich ein brauner Rand.
    Einmal noch rief er das Krankenhaus in Philadelphia an. Er verlangte nach Phyllis. Sein Anruf wurde verbunden und zurückgestellt und noch mal verbunden, schließlich hörte er die Stimme eines Mannes, der ihm erklärte, es gäbe keine Phyllis.
     
    Das war wann? Anfang der achtziger Jahre. Vor dreißig Jahren.
    Jetzt sitzt Bellmann in seinem Sessel in seiner Privatpraxis, das Telefon klingelt, man hört eine aufgeregte Stimme aus der Muschel scheppern – Bellmann nickt verständnisvoll, räuspert sich, dann Arztstimme, Patienten- und Kollegenberuhigungsbass: Wenn die Frau gebotoxt sei, falle die Faltenbildung auf, da müsse man dann

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