Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
eine Schraube, die man zu weit ins Holz gedreht hatte, noch weiter ein und sagte, er wisse nicht, wer das gewesen sein könnte.
Danach passierte ein halbes Jahr nichts.
Als schließlich der Anruf kam – so erzählt es jedenfalls sein Sohn Daniele heute –, saß Comeneno auf dem Holzhocker hinten in derKüche, so wie er immer dasaß, wenn er nach der Arbeit etwas getrunken hatte, leicht nach vorn geneigt, als könne er nur dadurch verhindern, unkontrolliert nach hinten umzukippen. Der Anrufer hatte eine eigenartige, tonlose Stimme, er sprach so schlecht Deutsch, dass Comeneno ihn fast nicht verstehen konnte und probehalber etwas auf Italienisch in den Hörer hineinschrie, in der Annahme, der andere sei vielleicht einer seiner ehrgeizigen Cousins aus Sant’Arpino, die seit ein paar Jahren in Deutschland waren und sich grundsätzlich auf Deutsch meldeten, auch wenn sie wussten, dass am anderen Ende der Leitung ein Italiener saß. Der Anrufer stutzte daraufhin kurz, er verstand offensichtlich kein Wort Italienisch und setzte den ursprünglichen Plan, seine Botschaft in dem ihm zur Verfügung stehenden Deutsch vorzutragen, fort: Die Lokale der Stadt hätten sich angesichts der zunehmenden Gewalttätigkeiten in der Welt zu einem Solidaritätsverband des »heiligen Beschützers« zusammengeschlossen. Für diesen wolle ein Komitee demnächst ein paar Spenden einsammeln, und es sei empfehlenswert, diesen freundlichen und um das Wohlergehen aller besorgten Herren das Geld in bar auszuhändigen, weil man sonst tatsächlich Gefahr laufe …
An dieser Stelle hängte Comeneno ein, schloss das Lokal ab und trat vor die Tür. Die Luft, die aus den Bergen kam, war eiskalt und frisch. Es schneite; auf dem Autodach lag ein weißer Flaum.
Als er heimfuhr, hatte er das Gefühl, verfolgt zu werden. Er gab Gas, der Wagen brach auf dem Neuschnee ein wenig mit dem Heck aus, beschleunigte dann aber mit einem gleichmäßigen Brummen bis auf achtzig Stundenkilometer. Als Comeneno sich umdrehte, war die Straße hinter ihm leer.
Sein Haus lag im Dunkel der Tannen und warf einen blauen Schatten in den verschneiten Garten. Eiskristalle funkelten an der Dachrinne. Er schloss den Wagen ab, stellte seine nassen Schuhe in den Windfang und stieg die alte Holztreppe hinauf zu den Schlafzimmern.
Carlotta, seine Tochter, war oft krank in diesem Winter. Nachts wachte er davon auf, dass sie hustete. Ihre Haare – dichtes, lockiges Haar, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte – standen in alle Richtungen ab. Manchmal, wenn sie nachts wach wurde, suchte sie ihn; er hörte das leise Klatschen ihrer Füße auf dem Parkett und das Schleifen der Bettdecke und des Stoffhasen, die sie hinter sich herzog. Er ging dann in die Küche, schaltete das Radio an und machte ihr eine heiße Milch mit Honig, und während das Mädchen verschlafen am Sendersuchlauf des Radios drehte, schälte er ihr Apfelsinen, von denen er die Haut und die feinen weißen Fäden entfernte, bis sie tieforange und wässrig leuchteten. Im Radio liefen schlechte Countrysongs für Lastwagenfahrer, Lieder darüber, dass zu Hause weit weg und die Autobahn endlos ist. Irgendwann schlief sie auf seinem Arm ein, und er trug sie in ihr Bett zurück, legte ihren Stoffhasen, den sie »Positano« genannt hatte, neben sie und deckte beide zu. Im Schlaf griff das Mädchen nach dem Stofftier und presste es an sich. Im Mondlicht sah sie sehr blass aus.
Sie war zu dünn, dachte er oft, sie müsste mehr essen. Manchmal ging er mit ihr über den Christkindlmarkt und kaufte ihr an einem Stand Bratwurst mit Ketchup und Granatäpfel und Lebkuchenherzen, den ganzen Kram, aber sie aß kaum etwas davon; sie mochte nur Pasta. Manchmal gingen sie zum großen Teich im Englischen Garten und fütterten die Enten; sie hatte den Tieren Namen gegeben und rief sie ihnen über das Wasser zu.
Er hatte vier Kinder – das Mädchen und drei Jungen, die ihm unter den Händen weggewachsen waren: Tommaso, der älteste, war schon achtundzwanzig und lebte in Belgien, die beiden jüngeren hießen Daniele und Francesco. Daniele war achtzehn und machte Abitur auf einem englischen Internat; wenn er zu Besuch war, trug er die Hände tief in den Hosentaschen, und seine Jacke beulte sich über der Innentasche, wo er Tabak, Papers, diverse Feuerzeuge und den Schlüsselbund hineingestopft hatte; er hatte lange Haare und verbrachte den Tag damit, auf seinem Zimmer Bob Marley zu hören. Francesco warsechzehn. Ihn
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