Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
hatte Comeneno nach zwei Schulverweisen für ein Jahr zu seinen Verwandten nach London geschickt, wo er in der Pizzeria eines Onkels gelernt hatte. Jetzt half er im Lokal seines Vaters mit.
Comenenos Frau stammte aus Briatico, einem Dorf am Golf von Sant’Eufemia. Mit siebzehn war sie schwanger geworden und deswegen von ihrer Familie zu übellaunigen Verwandten auf einen Bauernhof in den Bergen bei Rogliano verbannt worden. Von dort war sie nachts geflohen und hatte sich, nachdem auch ihr Freund nichts mehr von ihr wissen wollte, per Anhalter bis nach Neapel durchgeschlagen, wo sie im Hafen in einer der großen Hallen arbeitete, Fische ausnahm, sie in Styroporkisten verpackte und, während ihr Bauch immer sichtbarer wurde, Geld für das Kind und für ein Ticket nach Amerika sparte. Comeneno hatte sie kennengelernt, als er damals seine Familie in Neapel besuchte. Sie kam zu ihm nach Deutschland. Im Herbst machte er ihr auf dem Oktoberfest in einem Bierzelt zwischen zwei halbleeren Paulanerhumpen einen Heiratsantrag und ging am nächsten Tag in das Kapuzinerkloster, das in der Nähe seines Restaurants lag, um das zu tun, was seine Freundin schon getan hatte, nämlich die Beichte abzulegen und die notwendigen Vorkehrungen für eine Hochzeit zu treffen.
Der Mönch, ein Mann mit stechenden grünen Augen, wie er hinter dem Holzgitter des Beichtstuhls erkennen konnte, weigerte sich, ihm die Absolution zu erteilen; die Frau, die er heiraten wollte, sei bereits schwanger, daher –
»Aber jetzt werde ich sie ja heiraten«, sagte Comeneno, dem es nach einer viertelstündigen Belehrung in dem kalten, dunklen Beichtstuhl unbequem wurde.
»Nein«, beharrte das gerasterte Gesicht auf der anderen Seite des Beichtstuhls. »Es ist eine so schwere Sünde, ich kann dir die Absolution nicht erteilen.«
»Aber ich habe gar nicht gesündigt.«
Durch das Gitter des kleinen Fensters drang ein verblüfftes Schnaufen.
»Das Kind ist nicht von mir. Und meiner Frau habt Ihr die Absolution erteilt.«
Der Pater holte Luft. Dann steckte er seinen Kopf kurz aus dem Beichtstuhl und begann, während seitlich Licht durch die braunen Filzvorhänge des Beichtstuhls fiel und seine abstehenden Ohren zum Leuchten brachte, als sei er ein Abgesandter der Konkurrenz, leise zu schimpfen; dies sei nun völlig ungeheuerlich, murmelte er, das könne man nicht mit ihm machen, eine solche –
»Wir heiraten nächste Woche«, sagte Comeneno, dem mittlerweile die Knie weh taten, »also brauche ich jetzt die Absolution.«
»Tut mir leid. So einfach geht das nicht.«
»Dann werden wir in wilder Ehe leben und das Kind nicht taufen lassen.«
Das gerasterte Gesicht erschien wieder hinter dem Holzgitter. Der Pater begriff, dass dieser Italiener dort notfalls auch gut ohne Absolution leben könnte. Schließlich siegte die Sorge um das Seelenheil des ungeborenen Kindes; der Pater erteilte Comeneno die Absolution, aber es klang wie ein verklausulierter Fluch.
Sie heirateten zwei Monate vor der Geburt. Comeneno war vierundzwanzig damals; seit drei Jahren lebte er in München, wo er den Obstimport seines Vaters leitete. Sie nannten den Jungen Tommaso und gewöhnten sich an das Leben in Deutschland. Ein paar Jahre später gab Comeneno den Obsthandel auf und eröffnete sein erstes Restaurant, ein kleines, sehr erfolgreiches Lokal im Norden der Stadt.
Seine Frau brauchte jetzt eine Brille, was er auf das trübe Licht in den Wintermonaten zurückführte, in denen es schnell dunkel und oft tagelang überhaupt nicht hell wurde. Das Wetter machte sie traurig; abends, wenn der Junge schlief, wickelte sie sich eine Wolldecke um die Beine und schrieb lange Briefe an ihre Familie, die sie nie abschickte. Er kochte ihr Tee und neapolitanische Gerichte, die sie in einem erstaunlichen Tempo verschlang. Er schaute ihr dabei zu; sie war noch blasser geworden, seit sie in Deutschland lebte, unddünner; um ihre Augen hatten sich Ringe gelegt, als habe jemand sie ihr mit Asche dort hingemalt.
Die Geschichte von Comenenos Restaurants ist die Geschichte einer Erziehung des deutschen Gaumens. Er kannte die Deutschen, seit er klein war. Als Kind hatte er die deutschen Besatzer erlebt und später die Touristen, die im Restaurant seines Onkels aßen. Sie kannten nichts und liebten alles. Pizza mit verbrannter Kruste? Zu schwarz, klagten die Einheimischen und ließen mit einem Was-ist-Madonna!-eigentlich-in-eurer-Küche-los die verkokelte Pizza zurückgehen. Aber die
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