Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
als »neuerungssüchtig und bis zur Ungenießbarkeit überdreht« abqualifiziert hatte, seien wie Kinder, ständig wollten sie etwas aufregend Neues ausprobieren, aber wenn es anders schmecke als das, was sie kennen, seien sie entsetzt. Erfolg in der Küche bestehe letztendlich darin, bekannte Dinge neu zu kombinieren. Umso erfreuter würden sie dann versuchen, die Zutaten zu bestimmen, so, als würde ihnen ein guter Bekannter die Augen zuhalten und fragen: Wer bin ich? Wenn sich dieser Bekannte aber als Fuß eines unbekannten Schweins entpuppte, seien die Gäste beleidigt.
In diesem Sommer, in dem er sich seinen ersten gebrauchten Mercedes gekauft hatte, saß Antonio Comeneno oft vor dem randvollgefüllten Spezialtopf, in dem Schweinefüße, Zungen und Hühnerfleisch für zweihundert Mark brodelten, und versuchte, nicht an die sinnlos entfußten Schweine und auch nicht an die Anschaffungskosten des aus rostfreiem Stahl gefertigten, mit Heizplatten ausgerüsteten Spezialwagens für Bollito misto zu denken, mit dem man den Eintopf bis an die Tische hätte fahren und dort effektvoll servieren können – wenn ihn jemand bestellt hätte. Die Maschine hatte genauso viel gekostet wie ein gut motorisierter Fiat 127 oder wie die Jahresmiete des Apartments seiner Großtante in Neapel – eine Dreizimmeraltbauwohnung mit Blick auf die sorrentinische Bucht und Capri. Vor der Tür stand sein SL und glänzte sein Mercedesglänzen, aber dieser Anblick erfreute ihn nicht. Warum hatte er einen Mercedes? Wenn seine Frau nicht immer und immer wieder damit angefangen hätte, dass man nun, wo man drei Restaurants, ein Haus in Grünwald, vier Kinder und eine Bollito-misto-Maschine habe, auch an die Anschaffung eines Zweitwagens der Marke Mercedes denken könne, hätte er nie im Leben seinen alten Lancia geopfert. Er fuhr, als Familienwagen, eine Alfetta, zu Hause in Neapel hatten sie alle einen Lancia, der Vater einen straßenkreuzergroßen Flavia, Don Tommaso einen porösen alten Appia, der so viele Dellen hatte wie die gleichnamige Straße, und er, Antonio, hatte eine bordeauxrote 69er Fulvia. Er hatte die verbeulte Fulvia geliebt, den typischen Geruch nach römischen Sommern und warmem Kunstleder, und jetzt hatte er – aus Liebe zu einer Frau, die das durch und durch Neapolitanische an ihm einst so attraktiv gefunden hatte, und vielleicht auch, um seinen Verwandten beim nächsten Besuch zu zeigen, was er, il tedesco , wie sie ihn unten in Neapel mittlerweile nannten, erreicht hatte – einen Mercedes gekauft, der glänzend und deutsch vor der Tür stand und rein gar nichts mit ihm zu tun hatte und aus seinen orangegelben Blinkeraugen auf die Bollito-misto-Maschine schielte.
In diesen Monaten schaute Comeneno viel Fußball; er sah, wie Klaus Allofs in einem überhitzten römischen Stadion drei Tore gegen Holland schoss, bevor Jupp Derwall einen orientierungslosen jungenSpieler namens Lothar Matthäus einwechselte, der sechs Minuten nach seinem Eintritt ins Spiel einen üblen Foulelfmeter verursachte. Er sah, wie Fulvio Collovati vom AC Mailand beim Elfmeterschießen gegen die Tschechen den Ball verschoss, woraufhin Comenenos Vater, der das Spiel zu Hause in Neapel sah und Mailand ohnehin für eine kryptogermanische Enklave der Herzlosigkeit und Kälte hielt, vor Ärger fast einen Herzinfarkt bekam. Eine hysterische Tante rief Comeneno direkt nach Spielende in München an, um ihm mitzuteilen, der alte Herr liege im Sterben, was er aber nicht tat.
Die nächsten Wochen verliefen verhältnismäßig ruhig. Comeneno verdrängte, dass er manchmal das Gefühl hatte, jemand beobachte ihn; verdrängte, dass er zusammenzuckte, wenn die Äste der Tannen vor seinem Haus sich im Wind bewegten; vergaß, dass er einmal nachts ein Knacken an der Außentreppe des alten Hauses gehört hatte und, als er daraufhin an das Wohnzimmerfenster getreten war, zwei Schatten durch den Garten hatte flüchten sehen. Er hörte, dass in Italien die Töchter von Dieter Kronzucker entführt worden waren, und beschloss, seine Tochter rund um die Uhr und auch im Kindergarten von einem Neffen bewachen zu lassen – er hatte ausreichend Geld und genügend Neffen, die dafür in Frage kamen.
Die Probleme, die er mit der Renovierung eines neuen Lokals, seines vierten, hatte, lenkten ihn aber von diesem Vorhaben ab.
Das, was noch vor Ende des Sommers eine Pizzeria mit dem Namen »Vesuvio« werden sollte, war vier Wochen vor der geplanten Eröffnung ein
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