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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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des leicht bitteren, zerfleddert aussehenden Rucolasalats übergegangen zu sein.
     
    Das Neapel, in dem Antonio Comeneno aufgewachsen war, war nicht das Italien der Caprifischer und der Blauen Grotten; es war das Neapel der Öltanks, der Kartoffeln und der Mortadellabrote. Sein Vater hatte oberhalb des Hafens ein Haus gekauft, in dessen hohen, dunklen Räumen es im Herbst schnell kühl und feucht wurde, und an diesen Tagen, wenn der Nebel über den Hängen hing und die Feuchtigkeit der sorrentinischen Bucht über das alte Patrizierviertel Vomero zog, kochte seine Mutter, die aus dem Piemont stammte, einen großen, dampfenden Topf Bollito misto, der von zwei Männern vom Herd gehoben werden musste. Bollito misto war der Geschmack des Winters, das Gericht seiner Kindheit. Seit er in München lebte, hatte er es nur noch selten gegessen, jetzt hatte er es zum ersten Mal wieder gekocht, und es war eine Katastrophe.
     
    Das erste Opfer war ein Stammgast, ein Chirurg vom Klinikum Großhadern, der wie jeden Freitag gemeinsam mit seiner Frau Comenenos Lokal betrat. Er umarmte den Koch mit krachenden Schlägen auf dieSchulter, schob seine Frau wie ein störrisches Kind zu Comeneno hin, damit sie ihm, links-rechts-links, Begrüßungsküsschen gebe, reichte ihren Mantel an den bereitstehenden Kellner weiter, setzte sich und bestellte zweimal Bollito misto. Es schmeckte ihnen hervorragend. Hinterher wollten sie allerdings wissen, was genau sie da gegessen hatten.
    »Verschiedene Fleischsorten – und Wirsing!«, antwortete Comeneno ausweichend, aber der Chirurg, dessen Beruf es nun einmal war, ein unübersichtliches Gemenge von Knochen und Innereien präzise voneinander unterscheiden und bestimmen zu können, gab sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden.
    »Was für Fleisch?«, fragte er.
    »Huhn, Cotechino, Zam…«
    »Das heißt auf Deutsch?«
    »…pone. Wie bitte?«
    »Auf Deutsch? Meine Frau versteht doch kein Wort!«
    Comeneno starrte in Richtung Küchentür. Auch von dort nahte keine Rettung.
    »Huhn, Kalbszunge und Schweinefuß.«
    »Aha«, sagte der Chirurg mit einer dünner werdenden Stimme. Seine Mundwinkel, die sich schon zu einem erwartungsfrohen Lächeln aufgerafft hatten, machten auf halbem Wege kehrt und blieben in einer frostigen Position hängen. Die Chirurgengattin wurde blass. Der Gedanke, dass in ihrem Magen unbekannte Zungen und Füße herumwirbelten, verursachte ihr eine Art innere Seekrankheit. Der Kellner, der sich zu Comeneno gesellt hatte, um die leeren Gläser abzuräumen, verkannte den Ernst der Lage, klopfte dem Chirurgen auf die Schulter und erklärte, das Rezept für klassisches Bollito misto verlange nun einmal die Beigabe dieser Zutaten, man beschwere sich ja auch nicht, dass der Koch einen zerkleinerten Schweinehintern in die Carbonara tue.
    Die Frau des Chirurgen tröstete das aber nicht. Sie sah ein Schwein vor ihren Augen, das friedlich grunzend über einen Hof lief, und im nächsten Moment sah sie einen Fuß des Schweins auf ihrem Teller und ein Schwein mit nur drei Füßen, das sie aus kleinen, traurigen Augenanschaute. Sie sah eine Kuh, und dann sah sie die Zunge der Kuh in ihrem Magen querliegen und eine Kuh ohne Zunge auf einer Wiese. Der Chirurg hatte seine Brille abgenommen und beobachtete mit entschärften Augen, wie seine Frau sehr blass wurde.
    »Gut. Ihr zahlt nichts. Geht aufs Haus. Tut mir leid«, sagte Comeneno und setzte sein warmherzig-melancholisches Lächeln auf, das unzählige Male durch die Träume zahlreicher Gäste gegeistert war und zum Erfolg seines Lokals mindestens so viel beitrug wie das Essen.
    »Schon gut«, sagte der Chirurg, warf vier Zehnmarkscheine auf den Tisch und flüchtete mit seiner Frau nach draußen, wo ihr weißer Alfa Romeo parkte. Der Motor jaulte und wimmerte, als ob er Bollito misto verschluckt hätte, dann sprang er grollend an, und das kalkweiße Gesicht der Frau verschwand in der Nacht.
     
    Es war ein Fehler gewesen, den Gästen zu verraten, was in ein Bollito misto hineingehört, dachte Comeneno. Vielleicht war es auch ein Fehler gewesen, Bollito misto überhaupt einzuführen – obwohl Bollito misto nichts enthielt, was nicht auch in der traditionellen bayerischen Küche zu finden war; der Teufel wusste, warum die Münchner das Zeug im weißen Bräuhaus aßen, und zwar schon seit vierhundert Jahren, aber nicht bei ihm. Deutsche Kunden, sagte Comeneno zu seinem Nachbarn, nachdem ein Restaurantkritiker in der Lokalzeitung seine Kreationen

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