Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Neapel schwarz und braun war und die Farbe der Öltanks hatte, der rostigen Kräne und Brücken, der Schienen und der Container, auf denen »Grimaldi« stand. Streunende Hunde liefen hinter einem Transporter mit Wassermelonen her, Vespafahrer hupten, ein paar Jungen drehten sich nach dem Mercedes um. Er fuhr über das Kopfsteinpflaster der Via della Marinella, vorbei am Möbelladen De Riso, und der Mercedes krachte durch die Schlaglöcher und versetzte ihm Stöße in den Rücken, ein Gruß der Heimaterde.
Ein warmer Wind vermengte den Geruch von verbranntem Holz und Öl und den Bleigeruch der Abgase mit den Ausdünstungen des Hafens. Kein anderer Wind roch so. Der neapolitanische Spätsommerwind war ungesund, aber er machte ihn glücklich. Er fuhr vorbei an den grauen Wehrtürmen des Castel Nuovo über die Via Chiaia und bog scharf vor der Piazza Piedigrotta ab. Die Straße wand sich den Hang empor, hinauf zu den feinen, dunklen Wohnstraßen von Vomero. Ein schweres, gusseisernes Tor öffnete sich, dann knirschte der Kies eines palmengesäumten Innenhofs unter den Reifen des Mercedes.
Sein Vater saß im alten, holzgetäfelten Salon der Villa und blätterte durch die rosafarbenen Seiten der Gazzetta dello Sport . Sie hatten dieschweren alten Gardinen beiseitegeschoben, die Fenster standen offen, und weit unten leuchteten Sorrent und Capri im Dunst. Die Kinder versammelten sich um den Mercedes, klappten das Verdeck auf und zu und versuchten, die Zahlen auf dem Tacho zu entziffern. Neben der Pforte stand ein seltsames Männchen und schaute misstrauisch auf die Straße.
Als Comeneno von dem Anschlag berichtete, machte sein Vater ein ernstes Gesicht; er ging auf dem alten Terrazzoboden auf und ab, schaute ihn streng an und schlug vor, nach Capodichino zu fahren: Wenn es Probleme gäbe, sagte er, sei es wichtig, sich erst einmal einen guten Anzug zu kaufen.
Sie gingen zu Chiro Paone, der hier seine Schneiderei hatte. Als sie das letzte Mal bei ihm gewesen waren, hatte der Flugkapitän des Schahs von Persien gerade sechsunddreißig maßgeschneiderte Anzüge für seinen Herrscher abgeholt, aber jetzt war der Schah tot und Paone ein bekannter Mann, dem eine Marke namens Kiton gehörte.
Später, als das Licht schon schräg über der Bucht stand und die Farben der Mauern und der Zypressen sich in einem staubigen Goldschimmer auflösten, trafen sie Comenenos Halbbruder Mattia in der Kirche Sant’Angelo dei Lombardi. Mattia hatte ein paar Männer mitgebracht, die Comeneno nicht kannte und die während des Gesprächs stumm auf die Decke des Kirchenschiffs starrten. Comeneno hatte seinen Halbbruder lange nicht gesehen und wusste nicht, womit er inzwischen sein Geld verdiente. Unten in der Stadt redeten die Leute über ihn, es gab die wildesten Gerüchte. »Das ist das kleinste Problem«, sagte Mattia, nachdem Comeneno von den Jugoslawen berichtet hatte. »Das kleinste Problem. Lass die Kinder da und mach so weiter wie vorher. Wir kümmern uns.«
Comeneno blieb eine Woche. Dann ließ er die Kinder in der alten Villa in Vomero und fuhr zurück nach München.
Als er ankam, wirkte die Stadt verändert. Ein leichter, warmer Wind wehte, der von den Bergen kam und die Stadt in nur wenigen Stunden aus einem lauwarmen Herbst in einen seltsamen Sommerzurückkatapultiert hatte. Menschen schwitzten in dicken Cordmänteln, Schwarzwälder Kirschtorten dümpelten wie leckgeschlagene Öltanker auf den Tellern der Schwabinger Cafés, Böen zerrten an Ampeln und abgestellten Fahrrädern. Der Wind warf die Schiefertafeln vor den Pfälzer Weinstuben um und wirbelte im Hofgarten den Staub über die Tische des Tambosi. Die Theatinerkirche leuchtete goldgelb unter einem hohen Himmel, alles in der Stadt schien etwas Großes anzukündigen, und dieser plötzliche Wetterumschwung sorgte bei Comeneno für eine Euphorie, die er ansonsten nur empfand, wenn ein warmer neapolitanischer Heimatwind durch die geöffneten Scheiben seines Wagens wehte.
Comeneno machte einen Kontrollgang über die Baustelle, ließ sich in seinen Lokalen sehen, wo er mit respektvoller Besorgnis begrüßt wurde, und legte sich dann eine Stunde an die Isar. Das Wasser floss träge über weiße Flusskiesel. Er dachte an seine Tochter. Aus einer Telefonzelle rief er in Neapel an.
Wenige Wochen später kam es in München zu mehreren schweren Gewalttaten. Man fand ein paar Jugoslawen in einem Hinterhof in der Nähe der Theresienwiese, die Wunden am Kopf und an den
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