Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
ehrlich verdientem Geld auch die deutsche Polizei finanziere, von einer Bande wahnsinniger Krimineller ausgelöscht werden könne. Währenddessen saß Antonio Comeneno in seinem Mercedes, neben ihm Francesco, hinter ihm, auf den Notsitzen querliegend und sofort nach dem Start eingeschlafen, seine Tochter, und steuerte den Wagen durch die menschenleere Pappelallee südwärts und dachte genau das: dass eine ganze italienische Familie, sein Sohn, seine schlafende kleine Tochter mit den abstehenden Haaren und dem Hasen im Arm, die den Enten im Park Namen gab und sie alle auseinanderhalten konnte, fast von einer Bande wahnsinniger Krimineller in aller Seelenruhe ausgelöscht worden wäre.
Als sie losfuhren, hing ein feuchter, feiner Nebel über der Lindwurmstraße. Auf der Theresienwiese standen die Zelte des Oktoberfestes vor den erstarrten Riesenrädern. Die Luft kündigte den Herbst an. Ein paar Betrunkene hockten am Straßenrand, einer mit einem Filzhut redete mit einer halben Bratwurst, die im Rinnstein lag. In Untersendling fuhr er auf die Autobahn.
Francesco schaute aus dem Fenster und schwieg. Sie hatten nicht viel geredet in den vergangenen Monaten. Sie hatten ihn nach England geschickt, weil er eigenartige Musik hörte und seine Mutter ihn im Badezimmer dabei erwischt hatte, wie er sich mit einem schwarzen Lippenstift schminkte – und weil niemand in München und noch weniger in der vornehmen, platanengesäumten Via Luca Giordano begreifen konnte, warum in aller Welt ein sechzehnjähriger Süditaliener (dessen Vater sein ganzes Leben lang Obstkisten geschleppt und Nächte mit Rechnungen verbracht und schließlich ein Restaurant eröffnet hatte, um ihm ein Zuhause, eine Ausbildung und einen großen Stapel weißer, hellblauer und roséfarbener Hemden zu bieten) sich sein ohnehin fast schwarzes Haar blauschwarz färben ließ und eine Jacke tragen musste, auf deren Rückseite unter dem Bild eines gespaltenen Schädelszu lesen war, dass man die Polizei ficken solle. Dieser vom rechten Wege des Gemüsehändler- und Pizzabäckerclans abgekommene, ganz in Schwarz gekleidete, mit Kajal seine Augenringe vergrößernde Francesco also saß neben seinem Vater und starrte auf die farb- und lebenstrotzenden Häuser einer pastellfarbenen Stadt, die in ihrer ganzen weiß-blau karierten Gutgelauntheit wie ein einziger hämischer Kommentar auf seine pubertäre Wut und Tristesse wirkte.
Comeneno tankte vor Rosenheim. Er musterte die Wagen, die, während er am Heck des Mercedes stand, die Zapfpistole festhielt und spürte, wie das Benzin durch den Gummischlauch in den Tank strömte, von der Autobahn abbogen und an die anderen Zapfsäulen rollten. Es waren Familien, überladene Kleintransporter, ein harmloser Geschäftsreisender – offenbar verfolgte ihn niemand. Francesco, erinnert Comeneno sich, war ausgestiegen und betrachtete mit offenstehendem Mund das Fahndungsplakat, das an der Metalltür klebte. »Dringend gesuchte Terroristen«, stand über einer Reihe schwarzweißer, meist junger Gesichter: über die Hälfte von ihnen waren Frauen. Eine hatte einen Seitenscheitel und dunkle Augen und schaute nach oben, wie die Madonnen auf den Bildern, die von den Patres nach dem Kommunionunterricht verteilt wurden.
»Das sind Verbrecher«, sagte Comeneno im Vorbeigehen, aber Francesco schien ihn nicht zu hören.
Kurz vor der österreichischen Grenze schlief Francesco auf dem Beifahrersitz ein; er schlief mit offenem Mund, und das Morgenlicht warf einen Strahl auf das Chaos blauschwarzgefärbter Haare; sie fielen in unentschlossenen Kaskaden auf die Lederjacke, die er sich als Kopfkissen in den Nacken geknüllt hatte. Es gab keinen Tag, an dem Francesco diese Jacke nicht trug, und es stand zu befürchten, dass er sie auch in Neapel tragen würde; die Familie würde entsetzt sein, wenn sie den Jungen so zu Gesicht bekam. Andererseits setzte er mit seiner unseligen Vorliebe für schwarze Kleidung und unverwüstliche Einzelstücke eine Tradition seines Großonkels Don Tommaso fort, der seit dendreißiger Jahren einen tiefschwarzen Mantel besaß. Die Mode hatte sich erstmals in den fünfziger Jahren geändert; helle, enger geschnittene Tweedmäntel kamen auf, und Filippetta, seine Frau, nötigte ihn zum Besuch mehrerer bekannter Läden auf der Via Scarlatti. Sie hoffte inständig, ihrem Mann einen modernen, eleganten Mantel verpassen zu können, einen Mantel, der einem erfolgreichen Bauunternehmer angemessen war und beim
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