Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Der Typ war dick geworden, sie hatte kurze Haare, trug Wildlederpumps und sahsehr sportlich aus. Er versuchte, sich ihre neue Frisur, die Schuhe, die Kleider, all das, was das Leben seither um sie herum angehäuft hatte, wegzudenken, aber es gelang ihm nicht, zu sehen, was dann übrigblieb. Wahrscheinlich machte sie Aerobic – eine fitnessbegeisterte Endvierzigerin mit harten Gesichtszügen. Sie hatte ihn nicht erkannt; wenn sie überhaupt je an ihn dachte, vermutete sie ihn wohl in Deutschland.
Er kam gegen Mitternacht in Neapel an. Er parkte den verstaubten Mercedes im Hof, stieg die knarrende Treppe hinauf und schaute nach seiner Tochter. Sie schlief in dem wurmstichigen Holzbett, das schon in seinem Kinderzimmer gestanden hatte; wie immer hielt sie ihren Hasen fest umklammert. Im Raum hing der modrige Wintergeruch alter, feuchter Paläste. Durch das offene Fenster sah er das Glitzern der Lichter über der Bucht. Er zog die Vorhänge zu und lehnte die Tür leise an. Am nächsten Morgen, dachte er, würde er sie wecken und mit ihr nach Positano fahren.
1982
Das Eis
Kilometerstand 091.780
Er konnte nicht mehr arbeiten. Seit sie das Ding vor seinem Fenster aufgebaut hatten, schreckte er jedes Mal hoch, wenn die zu Grimassen verzerrten, schreienden Gesichter an seinem Fenster vorbeirasten. Er sah offenstehende Münder, Windjacken, flatternde Kapuzen – sah eine in eine Stahlschaukel geschnallte Gruppe von acht kreischenden Jahrmarktbesuchern, die vor seinem Fenster in die Luft katapultiert wurde, dann kurz aus dem Bild verschwand und direkt danach, noch lauter kreischend, in die Tiefe stürzte. Er konnte nicht weggucken; er musste jedes Mal hinausschauen, wenn das Ding an ihm vorbeiraste, und obwohl er wusste, dass es gleich wiederkommen würde, erschreckte es ihn jedes Mal aufs neue.
Sie hatten eine Riesenschaukel vor Wadorfs Fenster aufgebaut. Sie war die neueste Attraktion des Volksfestes, das einmal im Jahr stattfand. An normalen Tagen sah er dort unten nur die grauen Betonkübel mit den Stiefmütterchen, auf deren Rand ein paar Penner ihre leeren Bierflaschen in militärisch präzisen Reihen aufstellten, aber jetzt drang schon am Vormittag ein klingelnder, scheppernder, fiepender Lärm in sein Büro, und jedes Mal, wenn er aus dem Fenster schaute, raste wieder eine Fuhre kreischender Gesichter vorbei.
Es war heiß in diesem Sommer. Die Dinge in seinem Büro, das Telefon, die Schreibtischunterlage, die graue Plastikabdeckung der Adler-Schreibmaschine, alles fühlte sich an wie die Haut eines Grillhähnchens, heiß und klebrig.
Er hatte den Mercedes günstig bekommen. Es war sein erster Mercedes, wenn man von dem Kleintransporter absah, den er in Dortmund gefahren hatte. Nach der Schule, mit achtzehn, war er in die Spedition seines Vater eingestiegen und hatte sich einen schwarzen Ford 15 M gekauft, an dem die Zierleisten und zwei Radkappen fehlten und dessen Rückbank so durchhing, dass die Leute, die hinten einstiegen, sich automatisch in die Arme sanken, was einige sehr freute und andere gar nicht. Mit dem Wagen fuhr er im Sommer 1964 in die Tschechoslowakei, wo er eine junge Frau kennenlernte.
Sie hieß Dalisha. Im darauffolgenden Jahr, nach dreiunddreißig Briefen und noch mehr Postkarten, die er ihr alle paar Tage nach Prag schickte, machte er die Bekanntschaft ihres Bruders, der ihn in einer Bar in ein ernstes Gespräch verwickelte; am nächsten Abend fuhr er mit dem knatternden Ford, der mittlerweile seine letzte Radkappe verloren hatte und aussah, als sei der Eiserne Vorhang selbst über ihm niedergegangen, bei ihren Eltern vor.
Ihr Vater öffnete ihm, ein freundlicher, älterer Herr, der leicht gebückt ging und ihn aus tiefliegenden Augen musterte. Er sagte etwas, das Erich Wadorf nicht verstand, machte dazu allerdings eine ins Haus deutende, offenbar einladend gemeinte Bewegung; dann sagte er, wobei er eine würdevolle Haltung einnahm:
»Bitte hereingekommen. Hier.«
Dazu lächelte er huldvoll. Offenbar hatte der Mann irgendwo ein bisschen Deutsch gelernt. Dalishas Mutter drückte Wadorf zur Begrüßung erst an sich, als sei er ein lange vermisstes Familienmitglied, und dann in ein tiefes Sofa hinein. Der Vater nickte, als habe nun alles seine Ordnung, und steckte sich eine Pfeife an. Im gleichen Moment schoss aus dem Dunkel des Hauses ein Schäferhund auf Wadorf zu, der an ihm emporsprang, schnappte und knurrend an seinem Hosenbein zerrte. Der Vater warf Wadorf
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