Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
ihnen Seife und Rasierschaum vorbei.
An einem trüben Sonntag fuhren sie über den Checkpoint Charlie in die Friedrichstraße. Sie parkten zwischen einem Wartburg und einem seltsamen russischen Wagen in einer Seitenstraße und betraten das Haus von Sieverdings Cousine, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hatte. Wadorf verbrachte einen Nachmittag in einer brikettbeheizten Wohnung, aß zwei Stück Eierschecke, schaute aus dem Fenster auf verrußte Fassaden, sah Bröckelndes und Zerschossenes, beige und braun, roch den blauen Qualm, der sich lethargisch aus den Schornsteinen kräuselte. An diesem Nachmittag lernte er seine zukünftige Frau kennen.
Erika Majewski kannte ihre Eltern nicht. Sie war in einem Waisenhaus in Treptow aufgewachsen, in einem Zimmer mit Linoleumfußboden und fahlem Licht, mit anderen Kindern, die sie nicht mochte; sie war ein Staatskind, und sie hatte diesem Staat allmorgendlich mit einem mehrstrophigen Lied für seine Generosität zu danken. Sie hatte wenige Erinnerungen an ihre Jugend, aber diese wenigen Erinnerungen waren kalt und unerfreulich. Die Kinder im Heim hatten sie gehasst, weil sie die Hübscheste gewesen war. Der Staat zahlte ihren Schulabschluss, zahlte ihre Ausbildung zur technischen Zeichnerin und bezuschusste ihre erste Wohnung in einem Plattenbau, den sie nach sechs Monaten wieder verließ, um einen Berliner Autohändler zu heiraten. Der Autohändler war ein nervöser Mann mit linkischen Bewegungen, der in den Hohlräumen des sozialistischen Systems einen radikalkapitalistischen Bestechungshandel aufgebaut hatte. Manchmal kamen Menschen, die die Auslieferung ihres Trabants beschleunigen wollten, manchmal Leute, die vor fünf Jahren einen grünen Trabant bestellt hatten und nun liebereinen blauen haben wollten; an diesen Tagen durfte Erika das Wohnzimmer nur betreten, um Kaffee zu servieren; wenn die Gäste die Wohnung verließen, lag viel Geld auf dem Tisch, und ihr Mann saß breitbeinig auf dem Sofa und sagte: »Geht doch.«
Erika Majewski war achtzehn Jahre alt gewesen, als sie aus einem namenlosen Erziehungskollektiv in das Idyll dieser Wohnung hineinheiratete, aber besser wurde dadurch nichts; die im Heim noch streng egalitär auf alle verteilten Koch- und Abwaschdienste blieben nun ausschließlich an ihr hängen, und statt des Heimvorstehers tauchte jetzt spätabends ein alkoholisierter Trabanthändler im Flur der Wohnung auf, der sich über lauwarme und geschmacklose Suppen beschwerte, seltsam roch, seltsame Entschuldigungen für sein Zuspätkommen vortrug, mit rauher Stimme Sex verlangte oder sich schnarchend ins Bett rollte. Irgendwann tauchte er gar nicht mehr auf. Sie blieb allein in seiner Wohnung, und es war besser so. Manchmal klingelte ihre Schwiegermutter, trank einen Kaffee und machte ein bekümmertes Gesicht, als wolle sie sich für ihren Sohn entschuldigen. Manchmal kam eine Bekannte vorbei und erzählte vom Westen und von Urlaubsinseln, von denen sie gehört hatte.
Sie mache ihnen einen Kaffee, sagte sie, als Sieverding und Wadorf die Wohnung betraten. Wadorf starrte in seine Tasse und redete irgendeinen Unsinn; er war ganz durcheinander.
Am nächsten Tag setzte er sich in den Mercedes und fuhr zurück in die Oranienburger Straße; im Kofferraum hatte er einen tropischen Blumenstrauß aus Wilmersdorf, eingeschlagen in glänzendes Zellophan.
Später, nachdem er wieder gegangen war, saß sie lange vor dem zerknüllten Zellophan. Wadorf war das genaue Gegenteil ihres Mannes, riesig, mit langen, tentakelhaften Armen, einer freundlichen Stimme und einem Bauch, der aussah wie ein bequemes Kissen. Die Blumen waren sehr bunt.
Er kam jetzt öfter in den Osten. Sie trafen sich, obwohl das streng verboten war, am Müggelsee, wo man auf einen Hügel steigen konnte, von dem aus man den See und den Fernsehturm am Alexanderplatz sehen konnte und die endlosen Kiefernwälder, die hier begannen und bis nach Polen reichten. Von hier oben sah es aus, als liege Berlin in einem Urwald am Amazonas. Sie verabredeten sich für den Sommer. Er fuhr mit dem Mercedes in die Tschechoslowakei, sie mit dem Zug. Es war das zweite Mal, dass er in diesem Land eine Frau traf. Sie trafen sich in Karlsbad in einem Hotel. Dass jeder ihrer Schritte beobachtet wurde, ahnten sie nicht.
Nach diesen zwei Wochen war für Wadorf nichts mehr wie bisher, obwohl der lebenszeitfressende Wahnsinn des Alltags sofort wieder einsetzte: Eismaschinenhersteller sahen sich
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