Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Diese Art, durch die Stadt zu spazieren, war es, die ihn in den folgenden Jahren zu einem erfolgreichen Unternehmer machte; dabei witterte er die unerfüllten Sehnsüchte, die Leerstellen der Stadt, die fehlenden Angebote. Es gab zum Beispiel nur wenige Eissorten in Deutschland. Es gab »Happen«, ein Eis, das nach dem Krieg von Langnese auf den Markt gebracht worden war. Happen war das Brikett unter den Eisriegeln der Nachkriegszeit, und es erinnerte die Leute an eine Zeit, an die sie nicht gerne erinnert werden wollten, an die Zeit der Armut und an die Opfer, die man bringen musste, um den Kindern einen Happen zu besorgen. Im Lauf der Jahre wurden immer weniger Happen verkauft. Langnese behielt das Eis im Programm, stellte der Melancholie des Happens aber ein gelbes Fruchteis namens Capri zur Seite. Nachdem allerdings ein fast nur aus Wasser und Zucker bestehendes Fruchtsaftgetränk und ein untermotorisierter Familiensportwagen denselben Namen erhalten hatten, verlor auch das Capri-Eis seinen Glanz. Die Sehnsüchte des westdeutschen Eisessers brauchten ein neues Ziel, und das hieß Softeis. Wadorf beobachtete, wie Softeisautomaten der italienischen Spezialfirma Carpigiani in den Fußgängerzonen auftauchten. Das Softeis schlang sich vor den Augen der staunenden Kunden in einer barocken Serpentinenbewegung aus dem Automaten in die Waffel. Die Leute flippten völlig aus, wenn sie einen Softeisstand sahen, wenn sie das staubsaugerartige Geräusch der Eismaschine hörten, und daran änderten auch die von den anderen Eisherstellern verbreiteten Horrorgeschichten über lebensgefährliche Salmonellen und tödliche Keime nichts.
Wadorf beschloss, ein neues Leben zu beginnen. Er kaufte ein paar Softeisautomaten und gründete eine Süßwarenkette, und nach nur einem Jahr hatte er sechzehn Eisstände und Süßwarenläden, in denen er gebrannte Mandeln, kandierte Früchte, Cola-Lutscher, Gummibären, Zuckerwatte, Marshmallows und alle erdenklichen Kombinationen von Gelatine, Geschmacks- und Farbstoffen anbot.
Wadorf, der ehemalige Spediteur, der gescheiterte Parfümverkäufer, wurde dank der überwältigenden Erfolge seiner Süßwarenstände zu einem wohlhabenden Mann. Er kaufte sich ein Haus in Steglitz und mietete ein Büro in der Nähe des Kurfürstendamms. Es ging auf einen großen Platz hinaus, und sein einziger Nachteil war das jährlich direkt vor seinem Fenster stattfindende Volksfest.
Als er dreißig wurde, leitete Wadorf ein Eis- und Süßwarenimperium, besaß die teuerste deutsche Serienlimousine und den teuersten deutschen Roadster, und er war Besitzer eines ansehnlichen Hauses mit Doppelgarage und Jägerzaun – aber dass er ein glücklicher Mann wurde, hatte er einem Zufall, dem trostlosen Berliner Winter und der Ostpolitik Willy Brandts zu verdanken.
Der Berliner Winter, sagt Wadorf, ist einer der unangenehmsten; es gibt keinen Föhn, der wie in München ein helles Licht in die Stadt trägt, es gibt, anders als in Hamburg, keinen Seewind, und selten liegt richtig Schnee – und wenn doch, dann ist der Berliner Schnee am nächsten Tag grau vom Ruß und von den Abgasen, zerfressen vom Salz auf den Straßen, bepinkelt von Hunden und durchsetzt von Rollsplitt; kein Schnee, den man in die Hand nehmen möchte, nicht der blauschimmernde Schnee der bayerischen Berge, sondern ein vereistes graues Zeug, verharscht von einem Wind, der ungebremst aus den Weiten der Taiga über Polen nach Berlin weht. Gleichzeitig verschwindet das Licht, und oft kommt es wochenlang nicht wieder zurück: Morgens um elf ist es so dunkel wie nachmittags um fünf, und die Sonne hinter der bleigrauen Wolkendecke erinnert an eine 25-Watt-Birne. Im Winter sei Berlin für alleinstehende Personen vollkommen unerträglich, schlimmer als Nowosibirsk, wo die Kälte wenigstens die Wolken vertreibt und einen stahlblauen Himmel freiräumt.
Wadorf mochte den Berliner Winter nicht, er mochte die kalten Tage nicht, an denen er die Hände über die wärmende Öffnung des Toasters hielt, bis ihm die Brote gegen die Handflächen sprangen, er mochte das asthmatische Gurgeln der Kaffeemaschine nicht, das ihn an seineFrau erinnerte, er hasste das Geräusch der Pfützen, ihr hämisches Tsch-Tsch , als wollten sie darauf hinweisen, dass dies die schlechteste Zeit des Jahres für Softeisautomaten und Cabriolets war.
Wadorf beschloss, einen Freund in den Ostteil der Stadt zu begleiten. Peter Sieverding hatte Verwandte dort, und manchmal brachte er
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