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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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dachte an ihren zusammengerollten Körper, an das Gesicht des Schleusers, an die seltsamen Versprechen, die der Mann gemacht hatte. Er hatte keinen Vorschuss verlangt. Vielleicht hatte er den Auftrag einfach vergessen. Oder er hatte ihre Wohnung nicht gefunden; vielleicht war sie aus einem wichtigen Grund verhindert gewesen. Vielleicht hatte der Mann sie abgeholt, hatte sie in den Westen gebracht und bei sich behalten; vielleicht wollte er ihn erpressen … Oder war doch an der Grenze etwas passiert – ein Missgeschick, ein falscher Blick des Fahrers, und der Grenzbeamte wird misstrauisch, hält den Wagen an … ein Fluchtversuch, Schüsse –
    Um halb fünf stand er wieder auf, ohne eine Minute geschlafen zu haben. Er trank einen kalten Kaffee, der vom letzten Morgen auf dem Küchentisch stand. Gegen sieben verließ er das Haus, sah in seinen Briefkasten und fand nichts.
     
    Ein auf Ost-West-Fragen spezialisierter Rechtsanwalt, der seinen Sitz in einem beeindruckenden gründerzeitlichen Eckturm am Kurfürstendamm hatte, teilte Wadorf nach dreitägiger Recherche mit, Erika Majewski sei bei dem Versuch, die DDR im Kofferraum eines Peugeots zu verlassen, von Grenzbeamten aufgegriffen und verhaftet worden; vermutlich würden an der Grenze neuerdings Röntgenstrahlen zur Durchleuchtung der Kofferräume verwendet, der Wagen sei der einzige in einer Reihe passierender Westfahrzeuge gewesen, den die Beamten gründlich untersucht hätten. Frau Majewski befinde sich in Untersuchungshaft in Hoheneck.
     
    Ihre Gemeinschaftszelle erinnerte Erika Majewski an ihr Zimmer im Kinderheim; es waren die gleichen Stahlrohrbetten, nur fehlten diesmal die bunten Gardinen. Sie wurde frühmorgens zu Verhören nach Hohenschönhausen abgeholt. Beamte mit verschmierten, ovalen Hornbrillen legten ihr Fotografien ihres Aufenthaltes in Karlsbad vor (Erika mit Wadorf im Arm; Wadorf, Erika auf die Stirn küssend). Sie zitierten Aussagen dreier freundlicher Nachbarn über Treffen mit Wadorf in der Oranienburger Straße und am Müggelsee, sie erwähnten Ankunfts- und Abschiedszeiten, die ein weiterer Nachbar notiert hatte. Schließlich stellten sie Fragen zu Wadorf selbst: Ob er aus privaten Motiven gehandelt, ob er sie überredet habe, was ihre Pläne gewesen seien. Sie wussten alles. Sie sagte wenig.
     
    »Wenn Sie sich derartig kooperativ verhalten, werden das hier leicht dreißig Jahre«, sagte einer und tätschelte ihr die Wange. Dann schlug er die Zellentür zu.
     
    Erika Majewski verbrachte ein Jahr im Gefängnis. Sie erinnert sich an die schmalen, vergitterten Fenster, an die Gefängnisbibliothek, an die Läuterungskurse, die sie belegen musste, an die gigantischen Kragenecken des Mannes, der sie über die Zukunft im Sozialismus unterrichtete, und an seine schlechten Zähne. Nach einem Jahr wurde Erika Majewski im Rahmen eines Austauschprogramms von derBundesrepublik freigekauft. Sie zog zu ihm. Wadorf galt für die DDR als Auftraggeber einer Entführung; seine Anwälte rieten ihm dringend davon ab, das Staatsgebiet der DDR wieder zu betreten. Deswegen flog er, wenn sie im Sommer nach Spanien fuhren, bis nach Hannover, und sie steuerte den Wagen über die Transitstrecke und holte ihn am Flughafen ab.
     
    Er erinnert sich an diese Reisen: an die Passagiere an Bord seines letzten Flugs nach Hannover, müde Geschäftsleute mit gelockerten Krawatten, die sofort nach dem Start einschliefen und mit offenen Mündern in ihren Sitzen hingen. Wie weit unter ihnen die Lichter einer Siedlung schimmerten, ein helles Band, das sich in der Mitte verdickte und in verschiedene Richtungen zerlief. Wie er ein Mineralwasser bestellte und den Tisch wieder hochklappte, die Zeitung aufblätterte und die Börsenkurse las und sie wieder in das Netz an der Lehne seines Vordermanns zurückstopfte; wie das giftige Aquarell des Abendhimmels hinter dem ovalen Flugzeugfenster hing.
     
    Seine Frau war dort unten, allein in einem Luxussportwagen auf der Fahrt durch ein schwarzes Land, das er nicht mehr betreten durfte.
     
    Erika Majewski erinnert sich an diese Fahrten: wie der Motor beim Beschleunigen hinter Dreieichen höherdrehte, der Drehzahlmesser auf viertausendfünfhundert Touren stieg, wie der erleuchtete Grenzübergang im Rückspiegel verschwand und es dunkel wurde vor ihr.
    Sie war achtundzwanzig damals; siebenundzwanzig Jahre im Osten, eines davon im Gefängnis, ein Jahr im Westen. Entlang der Straße Wiesen und verlassene Häuser. Bis Hannover genau

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