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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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zweihundertsechsundsiebzig Kilometer. In der Ferne die Lichter eines DDR-Wachpostens. Sie hatte das Verdeck geschlossen bei diesen Fahrten; das Licht des Tachos leuchtete warm unter der Windschutzscheibe. Die Nadel stand bei hundertzehn Stundenkilometern. Sie hatte keine Angst.
     
    Wadorf war vor ihr da. Er fuhr mit dem Taxi in die Stadt und wartete am Taxistand vor dem Bahnhof. Er schaute den Taxifahrern zu, wie sie rauchten und die Dieselmotoren ihrer Limousinen anwarfen und losfuhren.
    In der Ferne hörte er das Rauschen der Autobahn. Eine beleuchtete Anzeige an einer Fassade warb für Ariel. Er wartete, und jedes Mal wieder kam die Erinnerung an die Nacht auf der Heerstraße zurück, das Gesicht des Schleppers, das Gesicht des Anwalts. Motten flogen gegen die verschmierten Scheiben einer Telefonzelle; aus dem Telefonbuch waren sinnlos Seiten herausgerissen worden. Er wartete eine Stunde, dann leuchteten in der Dunkelheit der nächtlichen Hauptstraße die Scheinwerfer des Mercedes auf.
     
    Es ist ruhig dort, wo sie jetzt leben, ein renoviertes Haus aus den sechziger Jahren mit Plastiksprossenfenstern, in einem Vorort von Dortmund. In Spanien, sagt er, habe es ihr nicht gefallen, damals. Sie ist kein Mensch, der die Hitze liebt. Auf dem Fensterbrett im Wohnzimmer parkt ein Flugzeugmodell. Im Garten, unterhalb der Terrasse, steht eine Hollywoodschaukel. Auf der Terrasse steht eine Lampe im Louis-n’importe-Stil, hinten im Garten eine Blautanne, davor läuft der Hund herum, ein Pudel mit graublauem Fell.
    Es geht ihnen gut, obwohl die Zeiten schlecht geworden sind nach der Maueröffnung; die Kaufhäuser, die früher ein Monopol besaßen, haben Konkurrenz bekommen von den neuen Einkaufszentren vor der Stadt. Wadorf verkauft schon lange kein Softeis mehr; in den neunziger Jahren hat er einen ambulanten Pizzaservice eröffnet und später mit Gewinn verkauft; jetzt leben sie von ihrer Rente.
    »Wir haben uns überlegt, was man heute brauchen kann«, sagt er. »Pizza kann man immer brauchen.«
     
    Seit fünf Jahren, sagt er, lässt sich überhaupt kein Geld mehr verdienen. Er hat viel verloren auf dem Neuen Markt und beim Crash von 2008. Aber er fährt einen großen Mercedes. Seine Frau fährt einen Smart.

1986
Die Angst
    Kilometerstand 112.198
     
     
    Herbert Gröberding kaufte sich den Mercedes zu seiner Pensionierung. Er hatte dreißig Jahre lang in der Rechnungsabteilung eines Mineralölkonzerns gearbeitet, jetzt hatten sie ihn mit einem großen Fest verabschiedet, bei dem der Abteilungsleiter ihm einen Bildband und eine Reisestaffelei überreicht hatte, denn man wusste, was Gröberding tat, wenn er sich nicht mit Ölfördermengen und Barrelpreisen und den Besatzungen von Halbtaucherbohrinseln beschäftigte: Er malte. Jeden Freitag fuhr er zu einem Malereibedarfsladen in der Stadt, kaufte ein paar Leinwände oder neue Öltempera, zog sich in das Atelier zurück, das er sich im hinteren Trakt seiner Altbauwohnung eingerichtet hatte, öffnete die Fenster, drehte die silbernen Farbtuben auf, stellte die Terpentinbecher bereit und mischte aus Ocker, Grün und Aquamarinblau den schlammigen Farbton an, den er in fast allen seinen Gemälden verwendete. Gröberding malte – nicht nebenher, sondern wann immer er dazu kam, nachts und frühmorgens; in seiner Wohnung lehnten hunderte von Bildern, die er teilweise verschenkte, teilweise in kleineren Ausstellungen in der örtlichen Sparkasse oder im Forum der Konzernfiliale ausstellte. Meistens waren es abstrakte Bilder, in denen Gröberding verdünnte Ölfarbe mit schnellen Pinselschlägen ineinanderwischte oder in Schichten übereinanderfließen ließ, nur manchmal, wenn die Verläufe ihm nicht gefielen, kratzte er mit dem Pinselstiel die Umrisslinien von Gesichtern, die ihm gerade in den Sinn kamen, Verwandte oder Hollywoodstars, in die trocknende Farbe. Auf diese Weise waren über die Jahre etwa dreißig Porträts seiner Frau, vier vonHumphrey Bogart und fünfzehn von Shirley MacLaine entstanden, die die Wände des langen Flurs in dichter Hängung bedeckten.
     
    Gröberding packte die Staffelei in den Kofferraum und fuhr mit seiner Frau nach Orbetello. Er malte dort, während seine Frau schwimmen ging und den Namen der Rose las, dreizehn Bilder, die er auf dem Balkon seines Hotelzimmers trocknen ließ und dann auf den Notsitzen des Mercedes verstaute – das letzte Bild, das noch feucht war, hinterließ einen bräunlichen Streifen auf dem Leder des

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