Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Nur Thorsten hatte noch dünnere Arme als Marco Heckensiep.
Trotzdem war er gerne dort, besonders, wenn sie feierten, und Jochens Freunde mochten ihn, obwohl sie ihn den Aufkleberheini nannten und ihn nicht ernst nahmen; er hatte keine Ahnung von dem, was sie interessierte, und womit er sein Geld verdiente, interessierte sie nicht. Jesper sagte, er solle lieber Kunst machen mit den Streifen; man könne herrliche Dinge damit tun, zum Beispiel Parolen auf den Teer pappen, die aus der Luft zu lesen wären, oder Schlangenlinien.
Marco Heckensiep mochte solche Ideen nicht. Bei den gelben Klebestreifen kam es darauf an, dass sie sich nicht ablösten, wenn Tausende von Lkws und Pkws über sie fuhren; sie mussten auf grobem Teer haften, aber auch auf weißen, mit der Markierungsmaschine bereits aufgebrachten Linien kleben bleiben. Nach Beendigung der Bauarbeiten musste man sie rückstandslos entfernen können. Seine Aufgabe war es, mit den Chemikern, die für das Unternehmen arbeiteten, eine Klebekonsistenz zu entwickeln, die diesen Anforderungen entsprach.
Er kam wegen Mina. Er hatte ihr ein Mixtape zusammengestellt, das er ihr in einem passenden Moment überreichen wollte, und Anfang Juni traf er sie tatsächlich allein an. Sie trug ein T-Shirt, aus dem eineSchulter herausschaute, und seltsame gelbe Schuhe von Danske Loppen, die ihre Füße wie die Flossen einer Ente aussehen ließen. Es war in den Tagen, als Thorsten und Gundula auszogen; es hatte einen Streit mit Jesper gegeben, Gundula hatte Jespers, wie sie sagte, latent autoritäres, dogmatisches Auftreten kritisiert und seine Doktorarbeit als Instrument repressiver Elitekulturen bezeichnet, die in ihrer Apodiktik letztendlich eine Totalisierung des Denkens und Handelns feiere; dann hatte sie begonnen zu packen, und als Marco Heckensiep in der WG ankam, standen die Kartons, zu zwei Ausrufezeichen aufgetürmt, im Flur.
Mina machte Tee und setzte sich zu Marco aufs Sofa; über ihnen hing, mit Nägeln in der Wand befestigt, das Kennzeichen eines Polizeiwagens, das Bernd bei einer Demonstration abgeschraubt hatte. Sie hörten die Kassette, und wie bei fast allen Mixtapes ergab sich durch die Abfolge der Titel eine mehr oder weniger geheime Botschaft, in diesem Falle waren es »One Night in Bangkok«, »Stripped«, »Icy Nights in Venice«, »I’m on Fire«, »Part Time Lover«, »Slave to Love«, »I Feel Love« und »What About Love«.
Beim vorletzten Lied rückte Heckensiep näher an Mina heran. Sein Gesicht war nun nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Mina schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an und sagte: »Was willst du eigentlich jetzt?«; dann fuhr sie ihm mit der Hand durchs Haar und schob ihn von sich. Marco Heckensiep wurde so rot, dass er das Blut unter seiner Haut pochen spürte, nahm die würdevollste Pose ein, die ihm unter diesen Umständen möglich schien, und erklärte, es sei alles klar, es wäre nur – wenn es irgendeine Chance gegeben hätte, hätte er sich sein Leben lang vorgeworfen, sie nicht genutzt zu haben.
Mina antwortete nicht und zog an den Schürsenkeln ihrer Danske Loppen. So saßen sie ein paar Minuten ratlos da, unfähig, sich aus dem weichen Cordsofa zu erheben, das sie wie ein Sumpf festhielt.
Wenig später tauchte Bernd in der Küche auf. Er sah die beiden kaum an, warf irgendeinen Doseninhalt in eine Pfanne und verschwand wieder.
Nach sechs Monaten in der Firma hatte Marco Heckensiep noch immer keine Freundin. Er redete sich zur Rettung seines ohnehin schütteren Selbstbewusstseins ein, dass keine der ihm bekannten Frauen seinen Vorstellungen und Ansprüchen entspräche – Ansprüchen, die sich mit wachsender Wartezeit ins Maßlose steigerten.
In der WG diskutierte man die Angelegenheit wie alles sehr offen: Es liege daran, dass er nichts zu erzählen habe, Geschichten von Klebestreifen würden jede Frau sofort in ein Ermüdungskoma treiben, rief Jesper, der sich im Wohnzimmer eine Hängematte aufgespannt hatte, in der er abwechselnd das dänischsprachige Handbuch Filosofi und Paul de Mans Rhetoric of Romanticism las, »außerdem siehst du aus, als ob deine Mudder dich angesogen hätte« – was stimmte; sie war es, die ihm seine Pullover, Hosen und Hemden kaufte.
Marco Heckensiep beschloss, sein Leben zu ändern. Er fuhr mit seinem verrosteten Datsun Cherry in die Stadt und kaufte sich eine Hose von Fiorucci, einen Pullover von Fruit of the Loom und eine Lederjacke. Ein Friseur
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