Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Genick geschoben, eine Zigarette im Mundwinkel. In diesem Wohnzimmer einer mittelgroßen deutschen Provinzstadt hatten mit der Verspätung von eineinhalb Jahrzehnten, die wichtige kollektive Erfahrungen oft haben, gerade die frühen siebziger Jahre Einzug gehalten.
In der Wohngemeinschaft lebten neben Jochen fünf Personen. Sie hießen Jesper, Thorsten, Gundula, Bernd und Mina. Bernd war zweimal durchs juristische Examen gefallen und engagierte sich in der DKP. Mina hatte Soziologie studiert und arbeitete als Kellnerin in einem Restaurant, das erst abends öffnete, weswegen sie den Tag über mit Bernd auf dem Bett lag und Gitarre spielte oder auf einer alten Olivetti-Schreibmaschine Pamphlete schrieb.
Thorsten war ein stiller, depressiver Arzt mit einer großen Brille, der zwanghaft alles, was er in die Finger bekam, auf etwas anderes stapelte – Zeitungsseiten auf Teetassen, auf Lauchstangen, auf Fladenbrot, auf Kleidung, auf Messer, an denen Butterreste hingen. Auch er spielte gern Gitarre. Fast jeden Abend sang er traditionelle Arbeiterlieder. Wenn er zu singen begann, war seine dünne Stimme kaum mehr als ein leises Summen, aber von Zeile zu Zeile wurde er immer lauter; den Refrain schrie er schließlich mit sich überschlagender Stimme in den Raum, bevor er erschöpft ins Sofa sank und »Ja, so war das in den Anfängen« murmelte. Die Wohngemeinschaft ließ diese Gesänge mit respektvollem Schweigen über sich ergehen; Bernd, der in solchen Momenten seine Arme verschränkte und mit den Händen seinen Trizeps massierte, fand Thorstens Stimme scheußlich, die Lieder aber ideologisch in Ordnung. Mina mochte es nicht, wenn er sang, hatte aberAngst, dass Thorsten sich etwas antun könnte, wenn man ihn kritisierte, deswegen sagte sie nichts.
Thorstens Freundin Gundula sah aus, als habe man auch auf sie zu viel gestapelt; sie hatte ein zerknautschtes Gesicht und langes, fransig geschnittenes Haar und sprach, wenn sie überhaupt etwas sagte, mit einer quakenden, beleidigt klingenden Stimme.
Gundula konnte Mina nicht ausstehen; sie mochte Minas Stimme und ihr kreissägenartig schrilles Lachen nicht, sie konnte mit ihrem sprühenden Tatendrang, ihrer Entflammbarkeit und ihrem Empörungswillen nichts anfangen. Wo Gundula sich setzte, zog sie die Beine an und wickelte sich in etwas ein, Decken, Mäntel oder Schaffelle; ihre rotgefärbten Fransen senkten sich wie ein Vorhang vor ihr Gesicht, und wenn sie dahinter etwas sagte, wurde es in der Regel von Minas flutwellenartigem Eifer davongespült; sie hatte ihr nichts entgegenzusetzen, obwohl sie wusste, dass Mina keine Sekunde über das, was sie sagte, nachdachte und am Ende einfach dumm war.
Bernd war in einem Pastorenhaushalt aufgewachsen und liebte es, direkt aus der Bratpfanne zu essen, die er dann in die Spüle warf, wo sie tagelang vor sich hin gammelte. Mina dagegen legte Wert darauf, dass an den Fenstern schöne Gardinen befestigt wurden und zum Frühstück Geschirr auf den Tisch kam. Sie kaufte sogar einen Staubsauger, was Bernd in seiner Annahme bestätigte, dass in Mina ungesunde bürgerliche Lebensvorstellungen schlummerten.
Gundula ging aus dem Raum, wenn Mina begann, Thorstens Stapelzwang zu diskutieren. Sie hatte, weil Thorsten im Gegensatz zu Bernd und Mina nichts von offenen Beziehungen hielt, ein heimliches Verhältnis mit Jesper Pedersen, einem dänischen Philosophiestudenten, der im kleinsten Zimmer am Ende des Flurs wohnte und an einer Arbeit über Foucault, Nietzsche und die Rezeptionsgeschichte des Anarchischen schrieb. Einmal hatte sich Mina zu Jesper auf die braune Cordcouch gelegt, angeblich nur, um fernzusehen; es gab deswegen einen Streit mit Bernd, der dazu führte, dass Mina in Jochens Zimmer zog und Jochen auf dem Flur schlief und Gundula Mina nochhasserfüllter anschaute, aber natürlich konnte sie dazu nichts sagen, und er, sagt Jochen Heckensiep, auch nicht.
Marco verbrachte fast jedes Wochenende bei Jochen. Er lief dann wie die anderen im T-Shirt herum, aber was sie als Befreiung aus repressiven modischen Uniformierungen feierten, war für ihn eine neue Form von Terror; in der Arbeitskleidung war sein Körper neutralisiert, Teil einer Masse, die ihm die Chance gab, als Mitglied einer Gemeinschaft akzeptiert zu werden, aber im T-Shirt wurden unüberbrückbare Attraktivitätsunterschiede sichtbar: Das T-Shirt entblößte seine dünnen Unterarme gnadenlos, während es bei Jesper und Jochen den muskulösen Trizeps betonte.
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