Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
stand mit verschränkten Armen im Türrahmen und weinte, aber die Kinder taten so, als bemerkten sie es nicht.
Sein Vater wohnte nicht weit von ihnen entfernt, und manchmal traf Marco nach der Schule seinen Bruder; im Sommer legten sie Zehnpfennigstücke auf die Bahngleise und warteten, bis der Zug nach Nürnberg kam. Einmal zündeten sie eine Mülltonne an; als die Flammen aus dem Plastikbehälter schlugen, rannte Marco weg und verlor seine Brille.
Jochen, sein Bruder, war zwei Jahre älter als er. Er durfte heimkommen, wann er wollte; der Vater war nicht streng, er war jung, und er wusste nicht, wie er den Jungen erziehen sollte, also ließ er es ganz bleiben. Manchmal trafen sie sich morgens in der Küche, wenn Jochen aufgestanden war und sein Vater gerade heimkam; dann machte der Vater ihm einen Kakao und erzählte Geschichten von Kapitänen und den Häfen der Karibik und den Piraten, die es noch heute dort gebe.
Sobald es ihm möglich war, also etwa mit sechzehn, ließ Jochen sich einen Bart wachsen und zog in eine Wohngemeinschaft.
Zu diesem Zeitpunkt war Marco vierzehn. Er hatte Pickel und trug eine zu große Stahlbrille, deren metallene Ränder ihm morgens kalt auf die Nasenwurzel drückten. Er hatte kaum Bartwuchs und keine Freundin. Beides änderte sich lange nicht.
Er hatte einmal Hoffnungen gehabt. Seine Lehrer hielten ihn für sensibel und mathematisch begabt; es hieß, man müsse ihn fördern. Natürlich war auch er verliebt, aber die Mädchen ignorierten ihn oder warfen ihm mitleidige Blicke zu, und während ihre Antipathien gegen die anderen Jungen schlagartig in Sympathie umschlagen konnten, blieb es für ihn bei mütterlich besorgten oder indifferenten Blicken. Er war da, aber er existierte nicht; auf dem entstehenden Markt der aufregenden, ungeheuerlichen Möglichkeiten war er nicht vertreten. Obwohl er tagelang vor dem Spiegel übte, konnte er nicht tanzen. Freunde nahmen ihn mit nach Töging ins PM oder ins Extra: Der Geruch vonSchweiß und Parfüm, die Hitze, das flackernde Licht, die Bässe, die ihn durchdröhnten – all das versetzte ihn in einen ohnmachtsnahen Zustand; seine Beine gehorchten ihm nicht, die Arme schlenkerten unkoordiniert. Nach ein paar Versuchen gab er es auf und sah den anderen zu, wie sie sich tanzend ineinander verschlangen. Es gab noch zwei weitere Jungen, die nicht tanzten, aber sie hatten das Talent, diesem Nichttanzen einen begehrenswerten, geheimnisvollen Charakter zu verleihen: Sie redeten nicht. Sie rauchten und schauten mit zusammengekniffenen Augen ins Stroboskopgewitter und wirkten auf sympathische Weise introvertiert und geheimnisvoll. Einmal zerrte ihn ein kleines, dickes Mädchen auf die Tanzfläche; Marco behielt sein Bier in der Hand und versuchte stolpernd, sich in den Rhythmus der Tanzenden einzuordnen. Die Kleine hüpfte und boxte mit ihren Fäusten in die Luft, er versuchte etwas Ähnliches und trat dabei jemandem auf den Fuß. Nach ein paar Minuten verschwand das Mädchen mit jemand anders im Kunstnebel. Er fuhr mit dem Fahrrad nach Hause. Seine Mutter fand ihn im Badezimmer, wo er versuchte, die blaue Stempelfarbe von seinem Handgelenk abzuseifen. Das ist es, was ihm von seinem ersten Discobesuch in Erinnerung geblieben ist: das Gefühl, mit einer bierdurchnässten Hose zu Bronski Beat zu tanzen, Neonlicht im Badezimmer, bläulich verfärbtes Seifenwasser, das in ein moosgrünes Waschbecken läuft.
Sein Bruder Jochen hatte das Abitur bestanden und studierte Soziologie. Jessica ging als Au-pair nach Paris und studierte Wirtschaftswissenschaften. Sie war auf eine unauffällige Weise hübsch – manche hätten auch gepflegt gesagt. Nach dem Studium fand sie eine Anstellung als Projektmanagerin in Aachen; alle zwei Wochen kam sie nach Hause und traf ihre Brüder.
Marco machte einen Realschulabschluss und ging bei einem Chemikalienhersteller in die Lehre. Nach ein paar Jahren spezialisierte er sich auf die Herstellung von Klebestreifen. Eine Spezialdruckerei stellte ihn ein. Nach einem Jahr wurde er in eine Abteilung versetzt, dieneuartige Haftfolien entwickelte. Er arbeitete viel. Manchmal besuchte er seinen Bruder.
Es gibt Bilder aus dieser Zeit, auf denen man die Küche einer heruntergekommenen Altbauwohnung sieht, darin herumliegend weiße Schaffelle, Weinflaschen, gelbe Aschenbecher neben der Spüle, Decken, Bücher, Kekse – und inmitten all dieser Dinge Marcos Bruder Jochen, vollbärtig, offenbar tanzend, einen Hut ins
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