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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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verwandelte sein Haar in eine atemberaubende Komposition aus Locken und Strähnen. Die Kühle im ausrasierten Nacken, wo bisher sein langes, dünnes Haar gehangen hatte, erregte ihn; wenn er mit der Hand durch die Frisur fuhr, fühlte es sich wie das Fell eines jungen Tieres an. Die WG war entgeistert; der schüchterne Streifenmann hatte sich binnen weniger Stunden in einen entschlossenen Markierungslinienpopper verwandelt.
     
    Eine Woche später übernahm er den gebrauchten Mercedes und fuhr eine Nacht lang mit dem Auto durch die Stadt; er parkte so, dass er es vom Café aus sehen konnte, nahm einen Drink und betrachtete dabei den glänzenden Wagen, ließ das Glas halbvoll stehen, trat hinaus, konnte nicht fassen, was sich in der Scheibe des Cafés spiegelte: Der Mann mit Föhnfrisur, Lederjacke und Mercedes, das war, wenn ihn nicht alles täuschte, ab jetzt er.
     
    Er kniete sich neben dem Wagen auf den Boden, um die Felgen anzuschauen, Fuchsfelgen, ließ den Motor an, stieg wieder aus und sah, wie die Abgase hinter den beiden Auspuffrohren eine helle Wolke bildeten, die im Licht der Rückleuchten rötlich schimmerte. Er sah, wie die Nebelscheinwerfer den weißen Mittelstreifen auf dem schwarzen Teer hervortreten ließen; er lauschte dem Geräusch des Blinkers und dem dezenten Donnern des sich im Leerlauf drehenden Achtzylinders. Er setzte sich in den Wagen, schaltete das Becker-Mexico-Radio an und gab Gas. Während der Fahrt brach er in sinnloses Gelächter aus, begrüßte irritierte Fremde mit einem lauten Hallo und atmete den typischen Mercedes-Geruch, den Geruch von kaltem Leder und einem Hauch Benzin ein. Beim Beschleunigen grollte der Motor wie ein Gewitter über dem Tal. Es waren diese Momente mit dem Wagen, die ihn glücklich machten, und es war kein rückwärtsgewandtes Glück, sondern eins, das sich ganz und ausschließlich auf die Zukunft richtete.
     
    Manchmal fotografierte er sein Auto; er hatte eine gute Kamera, eine Minolta Universal, mit der er jeden Winkel des Wagens dokumentierte, so wie ein Forscher die Pflanzen eines unbekannten Landes fotografiert. Er wusste alles über den Mercedes: dass beim 350er erstmals eine Koppelachse die bei den Vorgängermodellen eingesetzte Pendelachse ersetzte, deren Ursprünge bis in die zwanziger Jahre zurückgingen; er wusste, dass das gerippte Oberflächenprofil der Rückleuchten die Schmutzresistenz erhöht; er wusste, dass Uschi Glas, Gerd Müller und Udo Jürgens, außerdem Uli Hoeneß und Tony Marshall einen SL fuhren, und obwohl er ihnen nie begegnen würde, war er jetzt einer von ihnen: Er fühlte die Verwandlung, wenn er sich in den Fahrersitz fallen ließ.
     
    Die folgenden Tage waren außergewöhnlich heiß. Die Altmühl floss träge unter den alten Weiden dahin, das Schilf bewegte sich nicht, und die Luft staute sich über den gemähten Feldern. In der Ferne hörte er die Glocken der Kirchen. Jedes kleine Dorf hier hatte eine übergroßeKirche, deren Doppeltürme zwischen Beilngries und Köttingwörth in den Sommerhimmel ragten.
    Die Straßen waren staubig von der Erde auf den Äckern. Der Staub wehte durch das Wageninnere, er setzte sich in den Ritzen der Ledersitze fest, unter dem Lenkrad, in der Lüftung, man bekam ihn nicht mehr heraus; wenn er die Lüftung anschaltete, bliesen ihm die zwei schwarzen Plastikdüsen graue Flocken ins Gesicht.
     
    Weil ihm kein besseres Ziel einfiel, fuhr er zu seiner Mutter. Sein Stiefvater mähte gerade den Rasen, schon seit einer Stunde. Genau genommen mähte er nicht, sondern versuchte, die Nachbarn bei einem erstklassigen Ehekrach zu belauschen, den sie hinter offenen Fenstern austrugen, weswegen er einen Grund brauchte, um möglichst dicht an dem Zaun, der ihre Grundstücke trennte, entlangzulaufen; an besonders interessanten Stellen des Disputs stellte er den lärmenden Rasenmäher ab und tat so, als müsse er ihn reparieren. Danach versuchte er es mit Kirschenpflücken, aber der Baum stand zu weit vom Fenster der Nachbarn entfernt.
    Sein Stiefvater war beim Zoll. Sein Opel Rekord stand im Vorgarten vor dem Tabbert-Doppelachsanhänger, mit dem sie im Sommer nach Österreich fuhren; er war mit einer grünen Plane mit Tarnmuster bedeckt, als müsste er vor Luftangriffen geschützt werden. Der Stiefvater war früher Turner gewesen, jetzt ging er gebückt, mit eingezogenem Kopf, als sei er von den vielen Vorwärtsrollen krumm geworden.
    Marco half ihm, den Zaun zu streichen. Er half ihm, den Grill aufzustellen,

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