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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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das Gras, die feuchten Erdklumpen, aus dem es emporwuchs, die weißen Kugeln des Düngers und den kunstvoll gefalteten Klee; bei ihm lagen Mina und Jochen und noch jemand, sie lagen übereinander und ineinander verschlungen.
    Damals dachte er, es würde immer so weitergehen. Er wusste nicht, dass dies das letzte große Fest war, die letzte Orgie; dass Mina und Bernd ausziehen würden und bald auch hier von einer rätselhaften Krankheit die Rede sein würde, die den Optimismus eines Jahrzehnts, das der Atomangst, dem sozialen Kahlschlag und dem sauren Regen einen hartnäckigen Hedonismus entgegengestellt hatte, endgültig zerstörte. Die epochale Dunkelheit begann, das Zeitalter der Angst.
    Neben der Trias aus Freiheit, Sicherheit und Frieden waren es vor allem drei Grundlagen, auf denen der kollektive Optimismus basierte: Lebensmittel im Überfluss, schöne Autos und, dank Pille, mehr oder weniger sorgenfreier Sex. Damit war es nun endgültig vorbei. Aids brachte eine Schubumkehr der Wahrnehmung: Die Begeisterung für alles Fremde wich einer hysterischen Berührungsangst, in den Orgien, die allen noch vor kurzem als wildes Versprechen erschienen waren, erkannte man bald nur noch Todesgefahr, das Kondom wurde zum Symbol der Gegenwart: Eine ganze Gesellschaft verschanzt hinter einer Gummihaut, die nichts durchließ, keine Berührungen, keine Viren, keine Asylbewerber; die Bewohner der Ersten Welt abgekapselt, in todesabweisende Frischhaltefolie.
    Einmal, sagt Jochen Heckensiep, sei damals eine Frau mit zu ihm gekommen. Sie ging ins Bad, und als sie herauskam, sagte sie: »Du hast ganz viele Kondome im Badezimmer.«
    Er: »Ja.«
    Sie: »Warum eigentlich? Hast du das hier geplant?«
    Er: »Nein.«
    Sie: »Du hast also immer Kondome da? Warum? Mit wie vielen Frauen schläfst du eigentlich, wenn du eine solche Batterie Kondome brauchst?«
    Er: »Die liegen da nur so rum, für den Fall, dass man …«
    Sie: »Ich finde das ein bisschen eklig, dass ich jetzt nur so ein eingetretener Fall bin.«
    Er: »… jemanden kennen–«
    Sie: »Finde ich echt hart.«
    Er: »…lernt. Aber du willst doch …«
    Die Frau habe noch gesagt, sie wolle, dass erst sie da sei und dann das Kondom besorgt werde, und nicht umgekehrt ein Kondom da sei und dazu eine Frau besorgt werde, beziehungsweise zwanzig Kondome da seien und dazu zwanzig Frauen besorgt würden.
    Die Frau sei dann wieder gegangen.
     
    Im März 1986 wurde das Chemielabor, in dem Marco Heckensiep arbeitete, von einem spanischen Konzern übernommen. Die Abteilung 2 wurde geschlossen; Heckensiep war jetzt arbeitslos. Jochen kam mit Bernd vorbei, sie hielten ihm einen Vortrag; da habe er es, das beschissene System, das mit Thatcher und Kohl über die Lande gekommen sei, es gäbe keine Solidarität mehr, nicht mal einen Betriebsrat hätten sie in seiner Streifenklitsche gehabt, sonst hätte der ihn jetzt verteidigt, nun sei er ein Opfer des Kapitalismus geworden, den Kohl dem Land eingebrockt habe. »Der Effizienzdruck hat dazu geführt, dass sie hier alles dichtmachen und die Produktion in Billiglohnländer verlagern«, sagte Bernd in einem Anfall ungekannten Einfühlungsvermögens, Markierungsstreifen, sagte er, würden sie jetzt in irgendwelchen Giftküchen ohne Sicherheitsstandards produzieren lassen, in Bangladesch oder Südkorea oder weiß der Teufel wo, und die klebten dann nicht richtig, und hier seien alle arbeitslos.
    Marco Heckensiep, der mit Bernds Reden nie viel hatte anfangen können, begann zu überlegen, ob der Mann am Ende recht hatte, aber diese Gedanken liefen ins Leere. Seine Schwester Jessica kam und munterte ihn auf; er dürfe jetzt nicht den Kopf hängen lassen.
     
    Sie half ihm, Bewerbungen zu schreiben. Nachdem er sie abgeschickt hatte, verbrachte er seine Tage damit, Summer auszuführen oder am Wohnzimmerfenster zu sitzen.
    Im Radio brachten sie die Nachricht, dass es in einem Atomkraftwerk in Tschernobyl einen Unfall gegeben habe. Er sah die Landkarte, die die Tagesschau zu dieser Information einblendete, und war beruhigt. Er hatte Angst vor einem Atomkrieg, aber das hier war offensichtlich weit genug weg. Er ging seine Runde mit Summer, wie immer.
    Er sah, dass der Wellensittich in der Wohnung gegenüber jetzt falsch herum im Käfig lag. Offenbar war er gestorben. Oder sein Besitzer war gestorben und hatte ihn nicht mehr füttern können? Ein paar Tage später war der Käfig verschwunden.
     
    Dann hieß es, eine Wolke käme, man solle nicht hinausgehen,

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