Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Paris abzusetzen, unmöglich, diesen Film anzuhalten, in dem er, ganz gegen das Drehbuch, das sie sich ausgedacht hatte, offenbar in der Rolle eines rustikalen Trappers aufzutreten gedachte. Sie versuchte, während sie den Mercedes durch die Wassermassen prügelte, sich an ihre Begeisterung für diesen Mann zu erinnern – an seine Stimme, an die angenehmen Bilder, die sie beim Telefonieren vor sich gehabt hatte. Vielleicht lag es nur an dieser scheußlichen Kleidung? Sie starrte auf dieorangefarbene Tachonadel, auf das Lenkrad, dessen Pralltopf wie ein gigantischer Schmollmund aussah.
Hochhäuser tauchten auf und Schriftzüge, das Leuchten der Zeichen wurde intensiver, Carrefour, Conforama, sie kamen der Stadt näher; auf einem Plakat sah man eine Katze vor einem kostbaren Teller sitzen; ein Eis hieß Mystère, das Plakat war in dunkelbraunen Farben gehalten.
Der Mann versuchte, seine Hand wieder auf ihr Bein zu bugsieren, und sie schaltete blitzschnell auf S herunter. Der Mercedes heulte auf und schlingerte über die feuchte Fahrbahn, aber sie fing ihn ein und steuerte in die Ausfahrt Porte de Vanves. Als sie im dichten Verkehr auf dem Boulevard Raspail standen, schwiegen sie. Eine alte Frau balancierte ein rosafarbenes Paket mit brauner Schleife aus einer Patisserie und band ihren Pudel vom Laternenmast los. Bagger zertrümmerten die Reste eines alten Sandsteinhauses; ein Arbeiter stellte seinen Presslufthammer ab und wischte sich mit dem weißen, eingestaubten Arm den Schweiß vom Gesicht.
Der Mann schaute aus dem Seitenfenster. Im Kassettenrecorder lief seine Musik; das Gedudel machte sie wahnsinnig. Sie sah, dass er mit den Fingern den Takt klopfte. Vor ihnen lief ein engumschlungenes Paar über die Kreuzung. Ein Polizeiwagen zwängte sich mit flackerndem Blaulicht durch den Stau. Die Temperaturen lagen bei achtzehn Grad.
Im Hotelzimmer öffnete der Mann seinen Koffer, stapelte mit eckigen Bewegungen Hosen, Hemden und Unterhosen in den Kleiderschrank, schob dann das Bett näher ans Fenster und legte schließlich seine vielfarbige Funktionskleidung ab; jetzt sah er immerhin besser aus. Sie schloss die Augen und dachte an die Telefonate, dann küssten sie sich. Er hatte in all seinen Bewegungen etwas von einem Soldaten, dachte sie, einem Darsteller germanischer Helden, etwas Planmäßiges, Maschinenhaftes und Schweres. Schließlich stand der Mann auf und trat ans Fenster. Der Regen hatte aufgehört, nur irgendwo tropfte noch Wasser auf ein Metalldach.
Später, auf der Straße, nahm sie seine Hand. Sie gingen in ein Restaurant, saßen, umzingelt von glücklichen Paaren, an einem Boulevard und redeten, aber es kam ihr vor, als wiederholten sie nur ihre Telefongespräche. Er erzählte noch einmal, wie er auf dem Land aufwuchs, wie schwer es für ihn war, in der Stadt Fuß zu fassen, so formulierte er es: Fuß zu fassen, und sie schaute unwillkürlich auf seine Füße, die in den grauenhaften Wanderstiefeln steckten. Sie eröffnete ihm, dass man nicht ans Meer fahren könne. »Also doch nicht Normandie«, flüsterte der Mann, »wir bleiben jetzt hier, oder was?«
Sie sagte nichts und verwüstete stattdessen still den Tisch: pulte das Weiche aus dem Baguette und formte Figuren daraus, zerstörte mit der Gabel die in einer Dose steckenden Zuckerpäckchen, goss absichtlich Öl über den Tellerrand, während er sich zu ihrem Erstaunen als Freund des Landlebens zu erkennen gab und darauf drängte, doch einfach in die Champagne zu fahren. Beim Versuch, sie über den Tisch hinweg zu küssen, riss er ein Weinglas um.
Sie nahmen die Métro. Sie saßen unter den weißen Kacheln auf orangefarbenen Plastikbänken und schwiegen. Die Türen der Waggons schlossen sich mit einem warmen, klagenden Mollton. Sie saßen da, atmeten die Luft ein, die nach dem warmen Gummi der Reifen roch, und wussten nicht, was sie tun sollten.
Weil es regnete und sie nicht ins Hotel zurückwollten, betraten sie einen Laden nach dem anderen. Auf der Rue de Rennes suchte sie ihm ein dunkelblaues Hemd aus, das die Farbe ihrer Bluse hatte, und ein paar Wildlederschuhe. Er machte keinen besonders überzeugten Eindruck, kaufte aber alles, was sie ihm vorschlug, und steckte seine alten Sachen in die Plastiktüte, die der Verkäufer ihm gab. Als sie essen gingen, sah er völlig verändert aus; er bewegte sich vorsichtiger, weniger soldatisch, als könne er den neuen, schmalen Schuhen nicht trauen, und sie fand diese Unsicherheit reizend, empfand
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