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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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telefonierten sie zwei Wochen lang jeden Abend miteinander. Am Ende des Monats erzählte sie ihm, sie müsse verreisen, nach Paris, sagte sie. Er schlug vor nachzukommen.
     
    Vier Tage später stand sie in Orly unter dem »Arrivée«-Schild und schaute auf die Tafel, die ratternd die neuen Ankünfte vermeldete. Seine Maschine war zeitgleich mit zwei Flügen aus Mailand und Frankfurt gelandet. Es war warm, aber es regnete, und wenn sich die dünnen Schiebetüren nach draußen öffneten, trieb ein Schwall feuchter Sommerluft in die Halle und mischte sich mit der abgestandenen Kaltluft der Klimaanlage.
    Sie starrte durch die Flut der Ankommenden hindurch auf die Automatiktür, die hektisch Menschen auswarf, und erst hier fiel ihr auf,dass sie nicht mehr die geringste Erinnerung hatte, wie der Mann eigentlich aussah. Sie hatte ein vages Bild, das hauptsächlich durch eine optische Hochrechnung aus seiner Stimme entstanden war; sie stellte sich vor, dass sein Haar dicht und dunkel war, dass er braune Augen und leicht aufgeworfene Lippen hatte. Oder war er doch eher blond? Sie wartete, wie sie jetzt feststellte, auf jemanden, mit dem sie sich für drei Tage Paris verabredet hatte, ohne auch nur eine leise Ahnung davon zu haben, wie er aussah.
    Menschen mit Koffern strömten auf sie zu, Fragmente von Gesprächen wehten an ihr vorbei.
     
    Sie wartete. Die Automatiktür öffnete sich immer seltener. Draußen stand, im Halteverbot, der Mercedes. Sie hatte vier Stunden von Aachen nach Paris gebraucht.
    Sie ging ein paar Schritte bis zu einem Kiosk, dessen rotes Tabac-Schild mit dem grünen Kreuz der Flughafenapotheke um die Wette blinkte. Sie kannte ein kleines Hotel am Meer und hatte ihm davon erzählt, und er hatte darauf bestanden, mit ihr dort hinzufahren. Eine Frauenstimme rasselte aus dem Lautsprecher und forderte Monsieur Dubochard auf, sich an Schalter 26 zu melden, Monsieur Dubochard , wiederholte sie, est prié de se présenter au guichet 26 .
     
    Dann sah sie ihn. Er musste es sein, denn er lief mit ungelenken Bewegungen auf sie zu, rief ihren Namen und fuchtelte mit einem türkisfarbenen Rucksack in der Luft herum. Es war der hässlichste Rucksack, den sie in ihrem Leben gesehen hatte. Der Mann sah nicht aus wie jemand, der eine Frau in Paris treffen wollte, er sah aus, als wolle er zu Fuß von Dalarna aus zum Polarkreis laufen. Seine Füße steckten in unförmigen Wanderstiefeln; er breitete die Arme aus und drückte sie, ein wenig zu fest, an sich. Um seinen Hals baumelte der Bügel eines Kopfhörers.
    Sie gingen durch den feinen Nieselregen zum Auto. Ihr war schlecht, sie fragte sich, wie viel sie getrunken haben musste, um sich derartig in seinem Aussehen zu irren – oder hatte er damals ganz andere Sachengetragen? Der Mann redete, wie er auch am Telefon geredet hatte, aber im Pariser Juniregen klang alles, was er sagte, vollkommen sinnlos. Er schwang sich auf den Beifahrersitz, der unter seinem Gewicht stark nachgab, und teilte mit, er freue sich wahnsinnig auf dieses kleine Abenteuer, aufregend sei es ja schon, wenn er sich vorstelle, keiner seiner Kollegen wisse davon, außerdem …
    Sie startete den Motor. Peitschenmasten zogen vorbei und Werbetafeln, der Scheibenwischer quietschte über die Windschutzscheibe. Der Mann legte ihr eine Hand auf das rechte Knie – er hatte schöne Hände, immerhin –, fummelte mit der anderen die Kassette aus seinem Walkman (eine Tätigkeit, bei der sein Mund vor Anstrengung und Konzentration leicht offenstand) und stopfte sie in den Schlitz des Radios. Er habe dieses Band, sagte er mit einem professionellen Gesichtsausdruck, extra für ihre Reise zusammengestellt. Der Mann war viel kleiner, als sie ihn in Erinnerung hatte. Seine Haare waren nicht dunkel, sondern rötlich, die Augen blau und wimpernlos, und bei Tageslicht wirkten seine Lippen – schmale, von Sommersprossen gesäumte Lippen – eigenartig blutleer, und seine Hand, die schwer wie ein großes Kotelett auf ihrem Schenkel ruhte, machte sie ratlos.
    Es gelang ihr, beim Schalten von D auf S das Kotelett von ihrem Bein zu fegen. Der Wagen röhrte heiser und beschleunigte, sie fuhr jetzt über hundert. Das Stahlgerippe des Eiffelturms tauchte am Ende der Stadtautobahn auf. Sie wollten eine Nacht in Paris bleiben und danach nach Rouen fahren, das war der Plan, die Hotels waren gebucht; er war ihretwegen gekommen, sie hatte ihn darum gebeten, ihn sogar überredet – es war ganz unmöglich, ihn jetzt irgendwo in

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