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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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sie aussahen?
    Ja. Sie sahen völlig anders aus als wir.
    Wann kamen sie zu euch?
    Gleich als die Mauer auf war.
    Und?
    Ein Wahnsinn. Der totale Wahnsinn.
     
    Sie hatten das Spiel vor ein paar Monaten erfunden. Sie nannten es »Trabi Demolition Derby«. Jeder Teilnehmer zahlte hundert Mark; von dem Geld wurden zwei oder mehr Trabants und ein paar Kisten Bier gekauft, der Rest kam in eine Gewinnkasse. Der Sohn eines Hamburger Viehfuttergrossisten transportierte die Trabants mit einem Anhänger bis an den Autostrand von St. Peter-Ording, manchmal fuhren sie die ostdeutschen Kleinwagen auch selbst ans Meer, aber das war riskant, weil die Autos unterwegs jeden Moment den Geist aufgeben konnten. Am Strand wurden die Trabants dann mit roter Farbe numeriert. Schon während dieser Zeremonie wurde viel Bier getrunken: Die Hecktür eines schweren Mercedes-Geländewagens diente als Ausschank.
    Vor dem Wettkampf musste jeder auf einen Wagen setzen. Die Fahrer jagten – auch weil sie nicht wussten, wie man beim Trabant schalten sollte – so lange im ersten Gang über den Strand, bis der Motor oder das Getriebe platzte; gewonnen hatten diejenigen, die auf den überlebenden Trabant gesetzt hatten; sie bekamen die Gewinnsummeausgezahlt. Wenn keiner der Trabants kaputtging, wurde der Schwierigkeitsgrad erhöht und ein Golf mit Abschleppseilen an die Kleinwagen gehängt. Spätestens dann kollabierten die ostdeutschen Zweitaktmotoren in einer gigantischen blauen Qualmwolke; anschließend begann die eigentliche Party.
    In den wenigen Wochen, bevor die Polizei den Rennen ein Ende machte, sprach sich die Sache in Hamburg schnell herum. Die meisten Teilnehmer kamen aus Eppendorf, aus den Elbvororten oder aus Pinneberg, oft kamen sie mit den Drittwagen ihrer Eltern oder dem eigenen, metallicauberginen Golf G 60. Kolonnen mit überbesetzten Limousinen rollten an die Nordsee und entließen Menschen in Badeanzügen, Polohemden und weißen Jeans an den nächtlichen Strand. Die Luft roch nach Abgasen, Zigaretten und Meer.
     
    Henning Berkenkamp war schon bei den ersten Rennen dabei. Ein paar Meter vor ihm kroch einer, den er nicht kannte, im Sand herum und suchte seine Armbanduhr, es war eine Reverso, »wenn ihr eine Reverso im Sand seht«, jammerte er, »das ist meine«, aber die Reverso blieb in den tiefen Reifenspuren verschwunden. Ein braungebrannter Junge lag mit einem Mädchen im Fond eines tiefergelegten Mercedes 500 SEL, in dem es nach Gras und nach »Roma« roch. Der Junge trug ein rosafarbenes Hemd und schmale Schuhe ohne Socken, sein Haar glänzte feucht. Als er Henning sah, nickte er ihm zu und hielt ihm einen Joint entgegen, aber Henning hatte keine Lust darauf und ging zu seinem Wagen. Sein Trabant trug die Nummer 2. Nummer 1 hielt neben ihm.
     
    Sein Gegner war ein kleiner, dünner Junge, der unter seiner Baseballkappe fast verschwand, nur seine Ohren und die ebenfalls überdimensionierte Sonnenbrille, die ihrerseits von einer kurzen, sich aufwärtsbiegenden Stupsnase notdürftig festgehalten wurde, hinderten die Mütze daran, ganz über seinen Kopf zu rutschen. Die Baseballkappe saß am Steuer eines braunen Trabant 601 S, Henning fuhr einen grünen.
    Es war Ebbe, und das Meer war ziemlich weit draußen. Henninghatte die eigenartige, aufrechte Haltung angenommen, die der Fahrersitz des Trabants erzwang. Jemand gab den Startschuss, und Henning trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Die Düne, die Zuschauer und das schmale Gesicht verschwanden in einer hellblauen Abgaswolke, das Knattern des Motors schwoll an und ging in ein wahnsinniges, besinnungsloses Nageln über, die Karosserie schepperte; Henning sah im Vorbeirasen die erstaunten Gesichter von Leuten mit Bierflaschen in den Händen, die nicht fassen konnten, dass es bis vor kurzem ein Land gegeben hatte, in dem man ein Jahrzehnt warten musste, bis einem so ein Schrotthaufen geliefert wurde. Dann kam aus den Tiefen von Hennings Motorraum ein trockener Knall, der an das Geräusch eines explodierenden Plastikbehälters erinnerte, und mit einem Schlag blieb der Trabant vor den Dünen stehen. Henning schaute auf eine zitternde Leuchte im braunen Armaturenbrett, die das Verenden des Motors bekanntgab, öffnete die Fahrertür und stieg aus in den Sand. Die blaue Abgaswolke des Zweitaktmotors trieb vom Auspuff her über den kollabierten Wagen; für eine Sekunde hing der Geruch des Ostblocks in der Luft, dann verwehte der Nordseewind die Schwaden, und es roch wieder nach

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