Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
sogar eine fürsorgliche Sympathie für ihn.
Später am Abend, als sie durch die menschenleere Rue Fossé St. Jacques liefen und der Regen aufgehört hatte, kauften sie bei einem Araber eine Flasche Wein und tranken sie auf einer Bank vor Saint-Sulpice leer, und als sie frühmorgens, als der Himmel schon hell wurde und der Lärm der Vögel durch die geöffneten Flügelfenster drang, in ihren neuen Kleidern auf dem Hotelbett lagen, fragte er sie, ob sie in ihn verliebt sei. Sie sagte, das sei sie nicht. Er redete auf sie ein und fuchtelte mit den massigen Händen durch die Luft, als müsse er feindliche Insekten verjagen … sie habe doch am Telefon … und die kleine Pension … sie wollten doch …
Er brach in Tränen aus, und sie nahm ihn in den Arm. Sie war wütend auf sich selbst, er tat ihr leid, und gleichzeitig ekelte sie sich vor diesem kompakten, bebenden, sommersprossigen Muskelberg. Er klammerte sich an ihre Hüften und sackte über ihr aufs Bett, aber es gelang ihr, sich aus seiner Umklammerung zu winden. Sie gingen, ohne geschlafen zu haben, zum Frühstück in ein Café.
Gegen elf Uhr hatte sie einen Termin bei ihren französischen Geschäftspartnern, das war der Anlass der Reise – ein Termin, den sie eigentlich schnell hinter sich hatte bringen wollen und der ihr jetzt als Rettungsanker in einem unerwarteten Desaster erschien. Das Treffen fand in einem verglasten Raum in einem Hochhaus statt. Sämtliche Auslandsvertreter des Konzerns waren um einen ovalen Konferenztisch versammelt; hinter ihnen, auf einer Reihe dünnbeiniger Stühle, saßen die Mitarbeiter der mittleren Führungsebene. Ein schlapphaariger Mann legte Folien auf einen Overheadprojektor und erläuterte die Entwicklung der Bilanzen über einen Zeitraum von zwölf Monaten. Ein Franzose setzte sich neben Jessica; während der Präsentation lehnte er sich zu ihr herüber und flüsterte: »Eee looks like a dog, non?« Dann klappte er eine randlose Lesebrille auf und begann, sich mit einem feinen silbernen Stift Notizen zu machen. Nachdem der Mann seinen Vortrag beendet hatte, beugte sich der Franzose vor, stach kurz und energisch mit dem Finger in die Luft und begann,ihm Fragen zu stellen; er bat den Redner, Folie 3 noch einmal aufzulegen; wie sich herausstellte, hatte der Schlapphaarige in seiner Präsentation einen Zahlenfehler produziert, der seine Analyse hinfällig machte.
In der Kaffeepause sprach der siegreiche Franzose sie an. Er leite die Filiale in Blois und sei eigens für die Konferenz nach Paris gekommen, er kenne hier ein hinreißendes Lokal, in das er später mit einigen Kollegen aus der Rechtsabteilung gehen werde – hier sei die Adresse.
Auf dem Rückweg ins Hotel ließ sie sich Zeit, rief aus einer Telefonzelle eine Freundin an, kaufte sich im Printemps einen Mantel und trank zwei Glas Beaujolais in einer Bar. Vor dem Hotel parkte ihr Wagen; unter dem Scheibenwischer hatte sich ein Bündel nassgeregneter Strafzettel angehäuft.
Dann betrat sie, zu einer Aussprache entschlossen, das Hotel, aber der Mann war gegangen; auf dem Bett lag ein Brief, in dem er mitteilte, sie solle sich keine Sorgen machen, er sei selbst schuld, bedanke sich für die Zeit mit ihr und die schöne Idee mit der Normandie. Sie nahm den Brief mit ins Café und las ihn noch einmal. Sie dachte an die Wildlederschuhe, in denen er erstaunlich elegant ausgesehen hatte; gegen Abend stellte sich, obwohl sie über den Ausgang der Sache eigentlich erleichtert war, beim Anblick des abfahrbereiten Mercedes und der Tüte mit den monströsen Wanderschuhen ein Gefühl der Leere, sogar des Bedauerns ein. Sie startete den Mercedes, dessen Scheibenwischer aufgeweichte Strafzettelreste über die Windschutzscheibe schmierten, fuhr zu dem Restaurant, in dem der Franzose mit seinen Freunden feierte, und verbrachte die Nacht mit ihm.
In den Monaten danach bekam sie zahllose Briefe von dem Radiomann, und wenn er einmal eine Woche lang nicht schrieb, begann sie ihn zu vermissen. Als er ihr mitteilte, er habe eine neue Freundin, rief sie ihn an. Sie verabredeten sich in Köln, und alles war anders als inParis. Er trug neue Wildlederschuhe, sie fand, dass er phantastisch aussah und sehr gut roch.
Sie heirateten ein Jahr später und bekamen zwei Kinder. 1993 bezogen sie ein entzückendes Haus am Stadtrand von Aachen und führten ein glückliches und sehr langweiliges Leben.
1990
Der Osten
Kilometerstand 128.347
Weißt du noch, wie
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