Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Tang und Meer.
Jemand startete einen schweren Mercedes-Geländewagen, setzte rückwärts vor den zusammengebrochenen Trabant und zerrte ihn unter dem Beifall der Derby-Gäste wie ein erlegtes Stück Wild über den Strand. Henning Berkenkamp hatte das Rennen verloren, aber es war nicht seine Schuld. Man kannte die Motoren nicht, und es war Glückssache, wer gewann.
Auf dem Weg zur Wagenburg kam ihm ein älteres Ehepaar entgegen; der Mann hangelte sich die Düne hinab, um den havarierten Trabant zu begutachten.
»Das kann man gar nicht mit anschauen«, murmelte er. Die Frau zog ihn am Ärmel.
»Komm«, sagte sie.
Henning stieg in seinen Mercedes und fuhr den Dünenweg hinauf. Er fuhr von Husum an der Eidermündung entlang. DieLandmaschinen hatten die Straßen kaputt gefahren, und die Schlaglöcher beutelten den Wagen und zerrten an der Lenkung. Bei Tönning, wo die Wiesen hinter einem windschiefen Knick in flaches, schwarzes Ackerland übergingen, hielt er an einer Telefonzelle und wählte Biancas Nummer.
John Berkenkamp war wie immer früh aufgestanden und saß pünktlich um 6.30 Uhr in der Küche. Auch seine Frau hatte ihr Schlafzimmer, das im Erdgeschoss des kleinen weißen Reetdachhauses neben seinem lag, verlassen und klapperte in der Küche mit Tellern und Tassen herum.
In den beiden oberen Zimmern lag seine Tochter Anna mit ihrem Freund Bernd-Carsten in einem tiefen Sonntagsschlaf, der erst gegen Mittag enden würde. John Berkenkamp erhob sich, ging in den Garten hinaus und schaute aufs Wattenmeer. Der Anblick der endlosen schwarzen Schlicklandschaft deprimierte ihn. Er ging wieder ins Haus und klopfte gegen das Barometer, dessen Anzeige sofort sank, betrat das blau-weiß gekachelte Badezimmer und kramte aus dem Medizinschrank eine Packung Jarsin hervor. Er nahm eine Tablette und holte den Autoschlüssel aus dem Flur. Dann ging er wieder ins Freie. Das Haus stand schief unter seinem Reetdach, es sackte hinten, wo die Schlafzimmer lagen, weg wie ein überladenes Boot, die Vorderseite ragte wie ein Steinbug über die Erde; das Haus stand auf eine theatralische Weise schräg in der Düne. Er hatte es vor einem Jahr mit neuem Reet decken lassen, jetzt sah es aus, als habe es kein Dach, sondern eine Frisur aus trockenem Heu. Als er seine Frau kennenlernte, hatte sie einen ganz ähnlichen Haarschnitt getragen, einen Kurzpony, aber seit einigen Jahren besuchte sie einen ehrgeizigen Friseur am Mittelweg, ihr Kopf erinnerte jetzt an ein vom Orkan zerstörtes Strohdachhaus.
John Berkenkamp ging über die Kieseinfahrt zu dem schweren Mercedes SL und fuhr ihn rückwärts vor die ebenfalls reetgedeckte Garage. Er hatte Henning den Wagen zum fünfundzwanzigsten Geburtstaggeschenkt, aber genau genommen war der Geburtstag nur ein Vorwand gewesen, um endlich diesen Mercedes zu kaufen; der Mercedes war die Erfüllung eines jahrzehntealten Plans.
Berkenkamp war 1962, mit achtundzwanzig Jahren, in die Kanzlei seines Vaters eingetreten und hatte sich vorgenommen, von seinem ersten Ersparten einen gebrauchten Mercedes 190 SL zu kaufen. Mit dem Wagen wollte er nach Rom fahren, über den Sommer in Italien bleiben und eine Römerin kennenlernen. Aber dann hatte Berkenkamp eine Affäre mit einer erst zwanzigjährigen Nachbarstochter begonnen und war noch im gleichen Jahr Vater eines Mädchens geworden, was zu einer Heirat, zwei Kindern und dem Kauf eines Viertürers führte. Jetzt war die Zeit endlich reif für die Anschaffung eines alten SL: Henning John Berkenkamp würde vollenden, was John Berkenkamp begonnen hatte. Vielleicht würde er sogar eine Italienerin kennenlernen.
Der in Jarsin enthaltene, angeblich ausgleichend wirkende Botenstoff des Johanniskrauts hatte John Berkenkamps Gehirn erreicht; so gestärkt, sah er sich in der Verfassung, die Stoßstangen des Wagens in Angriff zu nehmen. Unterhalb der Scheinwerfer hatte sich leichter Flugrost gebildet. Offenbar war der Wagen am Meer gefahren worden, oder er hatte in einer feuchten Scheune gestanden, sein Zustand war nicht ganz einwandfrei. Doch das störte Berkenkamp nicht; wenn er den Wagen dennoch in einen Hochglanzzustand zu versetzen versuchte, dann nur, um seiner Frau zu beweisen, dass ein gebrauchtes Auto ebenso gut aussehen konnte wie ein neues. Allerdings hatte der Wagen einen unangenehmen Schönheitsfehler. Der Mercedes-Händler, bei dem Berkenkamp seit fast dreißig Jahren alle vier Jahre das neueste Modell bestellte und der ihm den SL für
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