Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Blick vonBernd-Carsten in seinem Rücken spürte, sagte er zu seinem eigenen Ärger fast kleinlaut:
»Wir sind hier immer ein bisschen lescher .«
»Ihr habt aber lange geschlafen«, rief Heidemarie Berkenkamp. »Heute Morgen, als ich aufgestanden bin, war der Sonnenaufgang wunderschön. Wenn ich überlege, dass wir dreißig Jahre lang jeden Tag um fünf aufgestanden sind. Mir hat das nie etwas ausgemacht.«
Henning griff nach einem Stück Kuchen, das vom Vortag übriggeblieben war.
»Es gibt eigentlich nichts Schöneres, als früh aufzustehen«, insistierte seine Mutter. »Na ja, John ist jetzt auch öfter müde. Wir waren schon bei Doktor Kesting, aber die Blutwerte sind in Ordnung.«
»Tsetse«, murmelte John Berkenkamp. Heidemarie unterbrach ihren Vortrag und schaute erstaunt auf.
»Bitte, ich habe nicht ganz verstanden«, sagte auch Bernd-Carsten mit einem zähen Schleswiger Akzent und zog zum Beweis an seinem Ohrläppchen.
»Tsetsefliegen. Die Schlafkrankheit. Die Schiffe bringen sie mit.«
»Waren Sie denn am Hafen?«, fragte Bernd-Carsten und richtete sich erschreckt auf.
»Nein. Aber es sind Fliegen. Das heißt, dass sie fliegen können. Sie verlassen die Schiffe auf dem Luftweg und landen landeinwärts in Harvestehude und stechen Rechtsanwälte, die im Garten schlafen, und pumpen ihnen ihr Gift in die Adern, und die liegen dann wie tot im Bett und hindern ihre Frauen daran, um fünf Uhr aufzustehen.«
Henning, der eine besondere Taktik zur Zerlegung des Obstkuchens entwickelt hatte, unterbrach die Parzellierung des Kuchenbodens und schaute seinen Vater an. Die Geschichte mit den Fliegen war ein Scherz, aber es konnte genauso gut die Wahrheit sein. Zigtausende von Lottospielern, die fest daran glauben, eine gute Chance zu haben, würden keinen Schein ausfüllen, wenn sie wüssten, dass die Wahrscheinlichkeit, in den kommenden fünf Minuten zu sterben, hundertmal höher ist als die, irgendetwas im Lotto zu gewinnen; und die Möglichkeit, dass Schiffe Tsetsefliegen mitbrachten unddiese das Hamburger Klima überlebten, war nicht von der Hand zu weisen.
John Berkenkamp erkundigte sich nach Hennings Studium und riet ihm energisch von einem Schwerpunkt auf Rechtsgeschichte ab, Bernd-Carsten lobte die umsichtige Politik von Lothar de Maizière und die Grütze, die Heidemarie Berkenkamp auftischte. John Berkenkamp hatte Lust, den kleinen Schleimer, der sich mit seiner Tochter in den Dünen herumtrieb, kopfüber in diese rote Grütze zu tunken, verordnete sich aber einen unverbindlichen, weltoffenen Gesichtsausdruck.
»So eine leckere rote Grütze«, wiederholte Bernd-Carsten. Unter dem Metallverschluss der Perlenkette, die Heidemarie Berkenkamp an ihrem Hals trug, bildete sich ein leuchtend rotes Kontaktekzem. Möwen trieben quer über den Himmel, der Sand knirschte zwischen den Zähnen, und Bernd-Carsten, den Berkenkamp, wenn er nicht anwesend war, Bernd-Karpfen nannte, saß am Tisch und sprach über das Problem staatlicher Unflexibilität. Berkenkamp schwieg und verfluchte die Störung seiner ruhigen Wochenenden. Die Wochenenden waren das Letzte, was ihm noch geblieben war, denn jenseits ihres Ferienhauses hatten die Berkenkamps seit sechs Monaten keine ruhige Minute mehr.
Es hatte an einem Nachmittag im November des Jahres 1989 begonnen, als Henning Berkenkamp gerade von einer staatsrechtlichen Klausur über die Frage der informationellen Selbstbestimmung nach Hause kam. Das Haus war eine dreigeschossige Harvestehuder Backsteinvilla, die sein Urgroßvater, der Kaufmann John Merten Berkenkamp, im Jahr 1899 erbaut hatte und die ebenso ein Familienerbstück war wie die zahllosen dunklen Vitrinen und die alten Sofas, die im Salon herumstanden und der Familie den Weg in den Wintergarten versperrten.
Henning hatte zu Beginn seines Studiums den Familiensitz verlassen und war in eine eigene Wohnung im Schanzenviertel gezogen, aber nach einer kurzen und unglücklichen Affäre mit Mia, die ebenfalls inder Schanze wohnte und zum Entsetzen von Hennings Mutter barfuß, und zwar mit sehr schwarzen Füßen, zu einer Grilleinladung im Garten der Berkenkamp’schen Villa erschienen war, hatte Henning, wie sich seine Mutter ausdrückte, endlich Vernunft angenommen und war in das Einliegerapartment im ersten Stock gezogen. Seitdem wohnte er dort.
Auf der Treppe hatte Henning an diesem Nachmittag seine Großmutter getroffen, die gemeinsam mit dem Großvater das zweite Geschoss der Villa bewohnte. Die
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