Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Großmutter, eine störrische und eigensinnige Hanseatin, die gerade ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert hatte, betrachtete es als ihren Beitrag zum Familienleben, das gelbe Laub zusammenzuharken, das von den großen Eichen im hinteren Teil des Gartens heruntertrudelte, eine Aufgabe, von der sie auch nach einem Herzinfarkt und zwei Bandscheibenoperationen nicht abzubringen war.
»Meinem Schwiegersohn ist der Garten ja vollkommen egal«, rief die Großmutter, während sie mit einem Besen eine Armee welker Blätter vor sich hertrieb, »aber mir nicht, der Rasen geht kaputt, wenn immer das Laub draufliegt, und das Laub wird ins Haus geschleppt und macht schlimme Flecken!«
Wenn am Nachmittag ein Geschwader älterer Damen aus der Nachbarschaft auf einen Tee und ein paar Montego-Schnitten, die von der peruanischen Hausangestellten in der Konditorei Karen Meyer gekauft wurden, zu den Berkenkamps kam, erklärte die Großmutter entschuldigend, im Garten sähe es aus wie in der DDR – und das, obwohl John Berkenkamp, der um die Gesundheit seiner Schwiegermutter in Sorge war, heimlich einen Gärtner beauftragt hatte, einmal pro Woche mit einem heulenden Laubsauger den Großteil der Blätter zu entfernen, während die Großmutter ihren rituellen dreistündigen Einkaufsbummel über die Eppendorfer Landstraße absolvierte.
An diesem Novembertag beschwerte sich die Großmutter allerdings nicht über den Zustand des Gartens. Sie hatte zahlreiche durch dieEinfahrt wirbelnde gelbe Blätter übersehen, was sonst nie vorkam; sie hatte vergessen, Montego-Schnitten kaufen zu lassen; sie stand inmitten der gelben Blätter und hörte dem Nachbarn Walter Schneider zu, der mit fuchtelnden Bewegungen auf sie einredete. Es war äußerst ungewöhnlich, dass Herr Schneider hier herumlief. Er verbrachte den größten Teil seines Lebens auf dem Balkon und hatte bisher nur einmal den Garten betreten, um sich bei Herrn Berkenkamp in aller Form zu entschuldigen, nachdem er zu Silvester mit einer Schrotflinte den Wetterhahn vom Dachfirst der Berkenkamp’schen Villa heruntergeschossen hatte. (Eine Wette, hatte Schneider dem erbosten Berkenkamp damals erklärt, dessen Schlafzimmer sich vier Meter unter der Einschussstelle befand, es war eine Wette; ich werde Ihnen einen neuen Hahn kaufen.)
An diesem Nachmittag aber stand Schneider in der Einfahrt und hämmerte mit der flachen Hand auf das Mäuerchen, das den grauen Fußweg von Berkenkamps Garten trennte, und sagte, die Mauer sei weg, und die Großmutter stand mit erhobener Gartenharke neben ihm und schaute durch ihre dicken Brillengläser in den hohen Hamburger Novemberhimmel. Man sah ihr an, wie sehr die Grenzöffnung sie durcheinanderbrachte. Natürlich freute sie sich für die sogenannten Brüder und Schwestern im Osten, obwohl sie selbst nur Brüder und Schwestern in Hamburg hatte, über deren Existenz sie sich größtenteils nicht freute, andererseits bedrohte die plötzliche Öffnung der Mauer ein Ritual, das der Großmutter noch wichtiger war als die Bekämpfung herabfallender gelber Blätter. Die Mauer ist weg , wiederholte die Großmutter ungläubig – und dachte bekümmert, dass sich, wenn die Mauer bis Weihnachten nicht wieder dichtgemacht würde, die Sache mit den Paketen wohl erledigt habe. Die Öffnung der Grenze war, das ahnte sie, das Ende einer Beschäftigung, die sie ebenso sehr liebte wie die Bekämpfung des gelben Laubs.
Jahrzehntelang hatte die Großmutter vor Weihnachten das große Esszimmer mit der Hamburger Standuhr, die zur vollen Stunde tief und scheppernd gongte, in eine mobile Paketversandstation verwandelt.Der Großvater, dessen Eltern aus dem Osten stammten, sperrte sich dort tagelang ein, bekam von der Großmutter in regelmäßigen Abständen einen starken Kaffee mit Schuss serviert und verschnürte und doppelverknotete und beschriftete bis spät in die Nacht die unterschiedlichsten Pakete. Er packte Kaffee Hag und Lindt- oder Merci-Schokolade und Socken von Karstadt und Kinderspielzeug und Rex-Gildo-Kassetten für Geschwister und Neffen und Halbneffen und Halbneffenzweitfrauen in die Kartons, bis er schließlich den Überblick zu verlieren drohte und begann, auf einen großen Bogen Packpapier Pfeildiagramme zu zeichnen, die darüber Auskunft gaben, wer mit wem verwandt, wer angeheiratet und wer schon wieder geschieden war. Auf diesen Plan steckte er dann, wie bei einem militärischen Strategieplan, Fähnchen, die eigentlich zur Dekoration von Kuchen
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