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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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bestimmt waren, und versah sie mit Zusatzinformationen. Über Luise stand: »verheiratet mit Peter«. Über Peter, auf einem roten Fähnchen: »Tabac-Rasierwasser und Rittersport zartbitter«. Als Luise Peter verließ und mit Harald zusammenzog, wurde das Peter-mag-Tabac-Rasierwasser-und-Rittersport-zartbitter-Fähnchen entfernt und durch ein Fähnchen mit der Aufschrift »Harald, Davidoff/Merci-Schokolade/Knoppers« ersetzt. Die obsoleten Fähnchen steckten am unteren Rand der Karte, falls eine der betroffenen Personen in eine weihnachtspaketrelevante Position zurückkehren sollte. Über die Jahre war so ein dynamisches Diagramm von Vorlieben und Verbindungen entstanden, um das Produktmanager und Stasioffiziere den Großvater beneidet hätten.
     
    Unmittelbar nach dem Mauerfall schienen sich die ohnehin zahlreichen ostdeutschen Familienmitglieder der Familie Berkenkamp allerdings vervielfacht zu haben: Ganze Jahresproduktionen von Trabants und Wartburgs rollten in die vormals ruhige, ahorngesäumte Seitenstraße des Mittelwegs, und bald zeigte das Berkenkamp’sche Haus deutliche Spuren einer Völkerwanderung. Die Verwandtschaft kündigte sich durch ein lautes und forderndes Knattern an, ein Knattern, das den Zusammenbruch eines ganzen Systems verkündete, dassich vom Mittelweg her näherte und immer lauter wurde, bis es vor dem kleinen, dunkelblaugestrichenen Gartentor abrupt verstummte; dann zogen die hellblauen Abgaswolken über das Anwesen mit der strahlend weißen Gründerzeitvilla, in deren Wintergarten John und Heidemarie Berkenkamp am Frühstückstisch saßen und das Hamburger Abendblatt lasen. John Berkenkamp pflegte in solchen Momenten den obersten Knopf seines Hemdes zu schließen und ein Lächeln aufzusetzen, das seine Frau »das Wiedervereinigungslächeln« nannte. Sein Schwiegervater war 1948 mit seinen Eltern nach Hamburg gekommen, der Rest seiner Familie war in Dessau und Zwickau geblieben. Die meisten von ihnen waren in einer fleischverarbeitenden Betriebsgenossenschaft tätig. Seit November 1989 kamen diese Verwandten regelmäßig, und jedes Mal brachten sie Wurst mit. Der Kühlschrank der Harvestehuder Villa war jetzt ausschließlich mit Wurst gefüllt. Inzwischen knatterten fast täglich noch nie gesehene Verwandte mit Trabants und Wartburgs über das alte Kopfsteinpflaster, nahmen kühn die Bordsteinkante und brachten ihre Fahrzeuge vor der frisch getünchten Gartenmauer des Familienanwesens zum Stehen, wo die Wagen wie bestellt auseinanderfielen, was den neuen Verwandten mehrtägige Aufenthalte im Gästezimmer der Familie ermöglichte.
     
    Henning, der zu diesem Zeitpunkt neben Jura auch noch Betriebswirtschaftslehre studierte, hatte anhand der Anzahl der von diversen ostdeutschen Verwandten vertilgten Montego-Schnitten, Käsebrötchen und Bierflaschen errechnet, dass man, wenn alles mit rechten Dingen und normalem Hunger zuging, im Osten etwa zweihundertfünfzig Verwandte haben musste. Offenbar war dort bekannt geworden, dass eine wohlhabende Hamburger Familie den Überblick über ihre ostdeutsche Verwandtschaft verloren hatte und nicht mehr wusste, wer wirklich zur Familie gehörte, man also nur behaupten müsse, man sei der Bruder des Schwagers von soundsos Vater, und schon werde man hineingelassen in die große weiße Villa an der Alster. In der schweren Eichentür des Berkenkamp’schen Anwesens jedenfallsstanden täglich neue Menschen in absonderlichen Aufzügen, die, einen Blumenstrauß in der linken, irgendein abgefallenes Bauteil ihres Autos in der rechten Hand, die verdutzte Großmutter an die Brust drückten, eine wirre genealogische Erklärung abgaben – von der Anneliese ihrem Schwager der Bruder! – und sich dann, unverständliche Begrüßungen in das Dunkel des Korridors hineinrufend, am Frühstückstisch breitmachten.
     
    Eines immerhin schafften die Gäste aus dem Osten: Es wurde wieder gefeiert in dem Haus, in dem es seit dem sechzigsten Geburtstag von John Berkenkamp etwas still geworden war und dessen hohe Räume nur noch vom wütenden Gebell des greisen Hausdackels erschüttert wurden, der auf seine alten Tage, wie der Tierarzt erklärte, häufig schlecht träumte, deswegen im Halbschlaf plötzlich aufschreckte und völlig sinnlos Schuhe und Blumentöpfe angriff.
     
    Die Großmutter suchte verzweifelt nach einem Ersatz für die Paketepackerei. Sie hatte an den endlosen, langweiligen Winterabenden gern den Aktenordner zur Hand genommen, in dem sie die Dankesbriefe ihr

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