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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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unbekannter Ostdeutscher aufbewahrte, und wenn ihr Bruder Dietmar auf einen Sherry vorbeikam, las sie ihm vor, was dort in ungelenker Handschrift auf graues Linienpapier gemalt worden war: »…wissen nicht, wie wir Euch das danken sollen …«, »… ist schwer, Worte für das zu finden, was wir angesichts dieser Geschenke empfinden …«, »werden Euch das nie vergessen« – und so weiter. Obwohl sie den Osten nie betreten hatte und ihren Mann gern mit seiner Herkunft aufzog, hatte sich die Großmutter jahrelang in dem Bewusstsein gesonnt, von einer angeheirateten Verwandtschaft als das wahre Christkind verehrt zu werden, als nie gesehener Geist in einer unerreichbaren Welt, der alle Wünsche erfüllt; die Wiedervereinigung drohte dieser Rolle ein Ende zu machen. Der Fall der Mauer war für sie gewissermaßen gleichbedeutend mit der Abschaffung ihres Heiligenstatus. Dafür bescherte das Zusammenspiel einiger entscheidender Umwälzungen in der russischen Außenpolitik und eineskollabierenden sozialistischen Systems der Hamburger Anwaltsfamilie Berkenkamp noch im ersten Jahr der Wiedervereinigung eine Schwiegertochter.
     
    Bianca Kobarski, die am 16. Januar 1990 im Fond eines giftgrünen Wartburgs mit vier anderen Halb- oder Viertelverwandten der Familie Berkenkamp nach Hamburg reiste, hatte große braune Augen und trug eine asymmetrische Frisur, die sie in einem schrillen Blond gefärbt hatte.
     
    Hamburg war die seltsamste Stadt, die sie je gesehen hatte. Am Hafen war sie backsteinrot, dafür gab es an der Alster keine anderen Farben als Dunkelblau und Dunkelgrün und Cremefarben, Apricot und Weiß; die Stadt sah aus wie eine Buttercremetorte in einem Moosbett. An ihrem ersten Abend war sie mit einer Cousine erst in die Badgalerie gegangen und dann in eine Disco, die unter einem Bahndamm lag und Traxx hieß und von seltsam zurechtgeföhnten Gestalten frequentiert wurde, die merkwürdig zuckend tanzten und mit dunkelhäutigen dürren Mädchen in die Nacht verschwanden; die jüngeren Menschen trugen cremefarbene Hosen und hellblaue Hemden und Sonnenbrillen, die sie sich ins Haar steckten – eindeutig Westdeutsche. Man konnte es sehen, so wie man einen Akzent hören kann.
    Es hatte in diesen verwirrenden Tagen nach der Maueröffnung mehrfach Versuche von beiden Seiten gegeben, die jeweilige unübersehbare Herkunft zu verschleiern. In Jena hatte Bianca ein paar Jungs getroffen, die behaupteten, sie seien die Söhne von Westberliner Zahnärzten und Autohändlern, und sie fuhren tatsächlich in einem großen BMW vor; einige Mädchen aus Jena, die von ihnen angesprochen wurden, waren beeindruckt und neugierig und wollten wissen, wie es mit westdeutschen Jungs ist. Am nächsten Morgen waren sie wütend und enttäuscht; in den Kulturtaschen hatten sie ostdeutsche Hygieneprodukte gefunden und keine Signal-Zahncreme, und am Ende hatten die Jungs zugeben müssen, dass sie aus Rostock kamen und sich den BMW nur geliehen hatten, um ostdeutsche Mädchen zu beeindrucken. Zurgleichen Zeit gaben sich dafür im westeuropäischen Ausland westdeutsche Abiturienten als Ostdeutsche aus, um umsonst etwas zu essen zu bekommen und bei Holländerinnen übernachten zu dürfen, denen sie erzählt hatten, ihr Geld, die Ostmark, sei nichts mehr wert, sie müssten sonst auf der Straße schlafen, und so kalt und herzlos habe man sich den Westen und vor allem Amsterdam aber nicht vorgestellt.
    Sie, Bianca, hatte im Dezember 1989, bei ihrem ersten Abend in West-Berlin, in einer Discothek am Kurfürstendamm, dem Big Eden, gezielt den jungen Mann angesprochen, der ihr am exotischsten erschien – einen dünnen Studenten mit schwarzen Locken, den sie für einen Brasilianer oder Marokkaner hielt. Später stellte sich heraus, dass er der einzige andere Ostdeutsche in diesem Laden war; sein Vater war ein libyscher Austauschstudent gewesen, der in Ost-Berlin Ingenieurwissenschaften studiert hatte.
     
    An ihrem zweiten Abend in Hamburg lernte sie Henning Berkenkamp kennen.
    Sie saßen im großen Salon der Berkenkamps, wo die Mutter dampfenden Kaffee servierte, die Großmutter von den Problemen der Laubbeseitigung sprach und der alte Dackel knurrend vor einer chinesischen Vase hockte. Biancas blondes Haar, erzählt Henning Berkenkamp später, leuchtete wie ein Heiligenschein, sie sah, von ihrer hysterisch bunten Skijacke einmal abgesehen, hanseatischer aus als alle denkbaren Hanseatinnen. Wenn sie ihn anlächelte – und sie hatte ihn angelächelt,

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