Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
beinharte Matratze mit einem stark haarenden Philosophiestudenten teilte, beendete er seinen Ausflug in die Welt der reduzierten Ästhetik und kaufte sich ein neues blassblaues Hemd bei Ladage & Oelke, wo seine Familie seit Generationen einkaufte. Dieses Hemd trug er, als er Bianca zum ersten Mal begegnete.
Bianca fuhr zwei Tage später wieder nach Hause, und Henning Berkenkamp verbrachte den darauffolgenden Tag in seinem Zimmer und starrte auf die gelbgrünen Tapeten und auf die Tagesdecke aus dünnem braunem Cord. Die Feuchtigkeit zog vom Fluss bis in sein Zimmer, und am Morgen lag die Elbe grau und braun vor den Landungsbrücken und schwappte gegen den Pier, und der Regen prasselte auf die kleinen Wellen und vertrieb die Möwen von den Pollern.
Nach sieben Tagen betankte er seinen Mercedes, kaufte für 12,80 Mark einen Varta Atlas Deutschland mit neuen Bundesländern und fuhr zu ihr.
Er war zum ersten Mal im Osten. Die Gegend, durch die er fuhr, war sandig und weit und roch anders; es war der Geruch der Zweitaktmotoren, den er vom Strand kannte, vermischt mit Bratwürstchen und etwas Unbestimmtem, Braungrauem. Er tankte an einer Tankstelle Minolbenzin, kaufte eine Packung F6 und aß das beste Würstchen mit Senf, das er je gegessen hatte. Er fuhr durch einen Ort, der Marsdorf hieß und auch so aussah, und dann durch Tauscha und Sacka und landete schließlich in einer Landschaft aus bunten Fernwärmerohren, zwischen denen sechsgeschossige Plattenbauten standen. Bianca wohnte in einem davon, im dritten Stock.
Sie verbrachten den Sommer an den Moritzburger Seen. Sie badeten in einem See bei Deutschbaselitz, sie schauten sich Midnight Run im Kino an und saßen an der Elbe und warfen bei Bad Schandau eine Flaschenpost ins Wasser und rechneten aus, wann die Flasche in Hamburg am Dock von Blohm + Voss vorbeikommen würde.
In die Regale der Läden wurden Westprodukte geräumt, die Bianca nicht kannte, Omo, Viss, ein Waschmittel namens Kuschelweich mit einem beknackt schauenden Teddybären auf der Flasche, ein Dreikilopaket, auf dem »Das gute Sunil« stand. Neben den Produkten verkündete ein Schild: »Verkauf dieser Waren ab 2. 7. 1990«. Am ersten Juli bildeten sich Schlangen vor den Banken, in denen Ostmark in D-Mark umgetauscht wurden. Im Fernsehen sah man Helmut Kohl mit einer blau-grün gestreiften Krawatte vor einer Bonner Wand mit Holzpaneelen sitzen; er sagte, dies sei »der entscheidende Schritt auf dem Weg zur Einheit unseres Vaterlandes, ein großer Schritt in der Geschichte der deutschen Nation. Es wird niemandem schlechter gehen, dafür vielen besser.« In den kommenden Monaten verringerte sich dann die ostdeutsche Produktion um 57,7 Prozent. Nicht einmal Obst und Butter waren mehr zu verkaufen, die landwirtschaftlichen Betriebe gingen trotz einer hektischen Finanzhilfe von 1,65 Milliarden Westmark reihenweise ein. (Genau ein Jahr später sah man dann Bundesbankchef Karl-Otto Pöhl mit einer ähnlichen Krawatte vor einer ähnlichen Wandtäfelung erklären, die Währungsunion sei völlig überhastet eingeführt worden und das Ergebnis eine Katastrophe.)
Der Sommer war heißer als alle anderen. Sie verbarrikadierten sich in Biancas Zimmer und schauten zu, wie Pierre Littbarski und Jürgen Klinsmann kein Tor schossen und Rudi Völler sich im Strafraum vor einem verdutzten Argentinier einfach fallen ließ, woraufhin der mexikanische Schiedsrichter Edgardo Enrique Codesal Méndez ein Foul vermutete und Andreas Brehme einen Elfmeter schoss und Deutschland auf genauso fragwürdige Weise zum Weltmeister machte, wie es kurz darauf wiedervereinigt werden würde.
Sie fuhren mit dem offenen Mercedes nach Berlin, wo Pink Floyd den Mauerfall noch einmal für alle nachspielte und eine hundertsechzig Meter lange Styropormauer zum Einsturz bringen ließ; zweieinhalb Monate später sangen Helmut Kohl und Lothar de Maizière an der gleichen Stelle gemeinsam die Nationalhymne, während eine sechzig Quadratmeter große Deutschlandfahne vor dem Reichstag gehisst wurde.
Dann kam der Winter. Sie besuchten sich. Sie fuhren mit seinem Wagen an die zugefrorenen Moritzburger Seen, donnerten über die vereisten Kopfsteinpflasterstraßen bei Dürröhrsdorf, pflügten auf gefrorenen Feldwegen durch den Schnee, öffneten das Verdeck und bekamen rote Ohren von der Kälte. Er schaute ihr zu, wie sie, halb versunken in einem überdimensionierten Mohairpullover seiner Mutter, den Mercedes fuhr. Ihre rechte Hand lag
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