Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
war kein Pastor; es war eine Frau, aber sie stand dort, wo normalerweise der Pastor steht. Neben der Frau, am Altar, hatte man ein Schlagzeug aufgebaut.
»So, ihr beiden«, rief die Frau, nachdem sie ein paar Belanglosigkeiten von sich gegeben hatte, und klatschte in die Hände.
»Also, dies ist ja nun ein ziemlich wichtiger Tag für euch.« Die versammelten Freunde schauten sich an. Sie sei froh, fuhr die gebatikte Frau fort, dass sich Henning und Bianca gefunden hätten, sie würden sicherlich ziemlich viel Spaß miteinander haben, aber man müsse sich auch treu bleiben, denn auch Treue könne Spaß machen, und außerdem sei Jesus immer mit dabei.
»Jesus ist immer mit dabei«, wiederholte sie und lachte. Es klang wie eine irre Drohung. »Er gibt uns das Gefühl, dass wir Spaß haben können – auch mit ihm.«
Einige ältere Damen legten die Köpfe schief. John Berkenkamp hustete. Die gebatikte Frau machte eine Pause. Sie hatte den Faden verloren. Dann fing sie sich und rief: »Na, und weil der Herr auch den Spaßnicht zu kurz kommen lässt, wollen wir die Sache einmal ein bisschen locker angehen. Unsere kleine Gospelgruppe wird jetzt ›When the saints go marchin in‹ anstimmen. Und wir bitten Biancas kleinen Bruder ans Schlagzeug! Und jetzt kommen sie, die Heiligen!«
Die Frau verschwand, dafür kam Biancas kleiner Bruder. Er war zwölf und trug eine Hose, in der er auch hätte zelten können. Die Kronleuchter zitterten leicht, als die sogenannte Gospelgruppe anfing zu singen, der Bruder drosch auf das Schlagzeug ein, weshalb man die Gospelgruppe bald nicht mehr hören konnte, was kein Verlust war. Danach kam der Pastor.
»Bianca«, sagte er und schob das Kinn vor. »Als du das erste Mal zu uns in den Westen kamst, hast du dich sicherlich über die vielen feinen Häuser gewundert.«
Bianca senkte den Kopf.
»Die großen, weißen Villen hier an der Alster. Das kanntet ihr nicht. Auch in die Karibik konntest du nicht fliegen. Ihr konntet nicht so einfach an einen Traumstrand reisen …«
»Wir haben doch nicht in Löchern gehaust! Wir hatten auch Strände, und Kuba!«, murrte ein Onkel von Bianca dazwischen, und bevor der Pastor seine rhetorische Figur, die darauf hinauslief, dass nicht Reisen und Villen, sondern allein die Herzensgüte zähle, zur Vollendung bringen konnte, hatte ein Teil von Biancas Verwandtschaft schon die Kirche verlassen.
Der Pastor rief ihnen hinterher, dass es auf all das nicht ankäme, sondern nur auf die Liebe.
»Was wir hier heute feiern«, donnerte der Pastor, »ist die Wiedervereinigung selbst. Ost und West, Mann und Frau, vereinen sich durch Gottes Kraft!«
Henning war auf seinem Stuhl zusammengesunken.
Eine Tante stolperte hinter dem verzweifelt weiterpredigenden Pastor mit einer Videokamera herum und nickte der Braut aufmunternd zu. John Berkenkamp fummelte in seiner Tasche herum und fand ein Paket Jarsin 300 für leichte bis mittelschwere vorübergehende depressive Störungen; vielleicht war das mit der Reformation keine gute Ideegewesen, vielleicht wäre ohne Luther wenigstens diese Weihrauchatmosphäre der Kathedralen erhalten geblieben, vielleicht wären der Welt die Schlagzeugmänner, das Gospelgegröle, der ganze Mehrzweckhallenprotestantismus und die VHS-Tanten erspart geblieben.
Nach der Trauung versammelten sich Freunde und Familie auf dem kleinen Vorhof; die Eltern des Paares standen starr wie die gegnerischen Parteien eines Verkehrsunfalls am Ausgang der Kirche und nahmen Glückwünsche entgegen. Die VHS-Tante hielt ihre Kamera so stur auf das Kleid von Bianca, wie man auf einer Safari ein eigenartiges, ungesehenes Reptil filmt. Auch der Vater der Braut trug Selbstgeschneidertes, farblich Mutiges zur Schau.
Heidemarie Berkenkamp registrierte mit Verbitterung, dass die Ostverwandtschaft wie eine homogene, muntere, für alle Vergnügungen offene Reisegesellschaft wirkte, die gerade ihren Bus verlassen hat, während die hanseatische Verwandtschaft aussah wie ein verkrachter Haufen Erben, die zu einer Gerichtsverhandlung zusammengekommen waren. Die Mitglieder ihrer Familie waren an einem Punkt angekommen, an dem sie aufgehört hatten, sich gegenseitig etwas vorzuspielen. John Berkenkamp wusste, dass sein Bruder seine Firma in die Insolvenz getrieben hatte, Heidemarie Berkenkamp wusste, dass ihre Schwester keine Affäre mit einem verheirateten Mann, sondern eine Affäre mit einer verheirateten Frau hatte – aber diese Zusammenkunft hier verstörte sie
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