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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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zweiten, insgesamt also dritten Glas fühlte sie sich besser, ein Erfolg, der allerdings von der Großmutter schnell wieder zunichtegemacht wurde, die in der Küche saß und Listen für Ostpakete schrieb.
     
    »Oma, was machsduda?«, fragte Heidemarie Berkenkamp und hielt sich an einem der hohen spanischen Esstischstühle fest; sie spürte, dass ihr die Konsonanten beim Sprechen durcheinandergerieten und einen eigenartigen Tanz auf ihrer Zunge aufführten. Die Küchendecke begann langsam, sich gegen den Uhrzeigersinn zu drehen.
    »Ich plane die Pakete«, sagte die Großmutter und legte den Kopf schief.
    »Aber sie können jetzt zu uns kommen, Oma«, sagte Heidemarie Berkenkamp. »Wir müssen ihnen nichts schicken.«
    »Ich freue mich auch über Weihnachtspakete, obwohl ich im Westen wohne«, murrte die Großmutter. »Und es wäre nett, wenn du Opa und mich einmal machen ließest. Du weißt, dass es Opas Augen nicht gutgeht. Das Paketebeschriften ist ein gutes Training für ihn.«
    Heidemarie Berkenkamp schielte auf die Liste. Soweit sie die Buchstaben erkennen konnte, hatte die Großmutter in der ihr eigenen, windschief über die Zeilen humpelnden Schrift die Wörter »Bohnenkaffee – Wollsocken – Zartbitterschokolade« notiert.
    Heidemarie Berkenkamp spürte, dass sie sich unmittelbar nach dieser Diskussion würde hinlegen müssen.
    »Oma«, sagte sie mit ermattender Stimme, »du willst nicht für zehn Mark Porto drei Pakete Schokolade im Wert von vier Mark vierundachtzig in eine Stadt schicken, die mit Schokolade so gut versorgt ist wie Hamburg mit Kaffeebohnen?«
    Die Großmutter schaute störrisch wie ein würdevolles Reptil hinter ihrer dicken Brille hervor und unterstrich das Wort »Schokolade«. Sie hatte aus Menschenliebe und Gefühl für die Unumstößlichkeit bestimmter Traditionen vielleicht einen kleinen Denkfehler begangen, aber sie würde sich jetzt nicht von ihrer Tochter, die ihr die Ostpakete schon zu Mauerzeiten auszureden versucht hatte, die Blöße geben, diesen Fehler zuzugeben.
    »Es ist nicht gesagt«, sagte die Großmutter, »dass die Öffnung der Mauer anhält. Und nun stelle dir bitte vor, wie enttäuscht die lieben Verwandten und deine zukünftige Schwiegertochter wären, wenn die Mauer wieder geschlossen wäre und keine Pakete mehr kämen!«
     
    Die Hochzeit von Henning und Bianca fand an einem Samstag im Mai statt. Hamburg lag weiß und grün und tiefblau in der Sonne, auf der Alster sah man die ersten Boote gegen die Mundsburg segeln, die Wolken trieben nordwärts. Vor der kleinen Backsteinkirche stand der hochglanzpolierte SL, auf dessen Motorhaube die Mitglieder von Hennings Repetitorium einen gigantischen weißen Rosenstrauß und das Schild »Just Married« befestigt hatten. Neben dem Auto parkte eine Armada dunkelblauer Geländewagen – und dazwischen, auf schmalen Reifen, ein paar bunte Kleinwagen aus dem Osten. Neben dem schweren Backsteinturm der alten Kirche standen drei dünne Mädchen mit großen Hüten; mit den breiten Krampen auf den schmalen Silhouetten erinnerten sie ein wenig an Stehlampen. Es waren Freundinnen der Braut, ihre Wangen glühten.
     
    In der Kirche war es kalt, und im Gegenlicht sah man den Staub, der hinter dem Altar tanzte wie ein böser Geist, der sich zu materialisieren versuchte. Als die Orgel einsetzte, musste John Berkenkamp mehrfach niesen. Eine Riege aufgedonnerter Rentnerinnen drehte sich empörtum. Ganz vorne, im Halbdunkel des Kirchenschiffs, saß Henning. Seine Ohren leuchteten rot. Er trug einen malvenfarbenen Anzug, den ihm eine Cousine seiner zukünftigen Schwiegermutter geschneidert hatte. Bianca trug ein weißes Kleid. Als sie sich umdrehte, sah sie Krawatten mit hellblauen Querstreifen, dunkelblaue Anzüge, dunkelgraue Anzüge mit kostspieligen pastellfarbenen Einstecktüchern, darüber rote, von Aufregung, Alkohol und Elbluft erhitzte Köpfe, Hennings Verwandtschaft, dahinter, wie ein durch Unterholz blitzendes Stück Heimat, die farbenfroheren, zerzausteren Onkel und Tanten aus dem Osten.
    Vor dem Paar stand eine ungefähr dreißigjährige Frau mit schmalen Lippen, roten Haaren und einem langen, gebatikten Kleid. Sie gehörte einem Typus an, den es außerhalb Deutschlands nicht gibt: bleiche Menschen, die die Farben absterbender Dinge lieben, Aubergine und Rostrot, Farben, die sich auch an ihren Möbeln, ihrer Kleidung, ihrer Lektüre und ihrem Wandschmuck wiederfinden.
    Henning hatte von einem netten dicken Pastor gesprochen. Dies

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