Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Vase an und zerrte erschreckt an den schweren Gardinen; und während man die erhitzten Rentner voneinander trennte und mit Kaffee und Herztabletten versorgte, nutzte Henning das allgemeine Chaos, um Bianca zu einer kurzen Fahrt an die Elbe zu überreden.
»Dein Auto?«, fragte sie und zeigte auf den glänzenden SL, der zwischen zwei frisch eingetroffenen Wartburgs parkte.
»Ja«, sagte Henning.
»Wie Bobby Ewing«, sagte sie.
Sie fuhren mit offenem Verdeck an der Alster und am Dammtorbahnhof vorbei und am Hanseviertel, wo Henning, der seine Qualitäten als Stadtführer entdeckte, Bianca darauf aufmerksam machte, dass die polnischen Maurer, die die Backsteinfassade hochgezogen hatten, alle dunklen Steine aussortiert und so mit den hellen Steinen vermauert hatten, dass in der Eingangsfassade die Buchstaben POLEN zu lesen waren.
Sie verbrachten den frühen Abend an der Alster auf Bodos Bootssteg; Bianca schaute den Alsterdampfern nach und staunte über dieses Leben, das sie bis vor kurzem nur aus dem Fernsehen gekannt hatte. In der Ferne sah man das grüne Dach des Hotels Atlantic, das Polizeihochhaus und die Türme der Mundsburg, die keine Burg, sondern ein Hochhausensemble aus den sechziger Jahren war. Sie saßen auf den Bierbänken und blinzelten in die Abendsonne und tranken ein Bier und überlegten, warum der Rettungsring, der vorne am Anleger Rabenstraße hing, gelb und nicht rot war wie alle anderen, und warum man besser keinen DDR-Ministerpräsidenten haben wollte, der einen Kinnbart trägt und am liebsten Viola spielt. Die Verklicker der Segelboote klapperten im Wind, die Wolken verzogen sich häufchenweise, und im Abendlicht lag die Alster silbern da wie eine Stahlplatte.
Dann steuerte Henning den Mercedes über die Reeperbahn hinunter zum Hafen, und Bianca schwieg und schaute auf das Dock 11 von Blohm + Voss, in dem das größte Schiff lag, das sie je gesehen hatte, und Henning schaute nur kurz nach dem Schiff und sehr lange auf ihre braungebrannten, nackten Beine, die aus einem hellen Jeansrock hervorschauten.
Über die Jahre hatte Henning verschiedene Freundinnen gehabt, die Marie, Marei, Insa, Inken, Jana und Jonica hießen und sich auf eine Weise ähnelten, die John Berkenkamp ratlos machte: Sie waren alle blond, hatten Stupsnasen und eine frisch gewaschene Hamburger Art, die an weiße Segel und frische Butter und Kornfelder in der Sonne erinnerte. Sie trugen alle weiße Turnschuhe von Superga und wohnten in hochglanzrenovierten Altbauten mit dunkelblaulackierten Türen, sie spielten Cello oder Geige, und in jeder dieser Familien gab es einen Golden Retriever, zwei bis drei jüngere Geschwister, zwei dunkelblaue Autos, drei bis fünf Dufflecoats, verschiedenfarbige Cordhosen und Tweedkostüme, Stilmöbel und eine große Auswahl an Earl Grey und Darjeeling. Frau Berkenkamp machte sich in dieser Hinsicht keine Sorgen um ihren Sohn. Bevor Bianca auftauchte, hatte es in Henning Berkenkamps Leben nur zwei Beziehungen gegeben, an die sie sich ungern erinnerte. Die erste Frau war eine Russin; ihre Eltern waren nach Hamburg gezogen und führten von dort aus eine Reederei, deren Schiffe weltweit in seltsame Havarien und Unglücksfälle verwickelt wurden; sie hieß Katya, hatte dunkle Locken und verbrachte ihre Nachmittage im Wohnzimmer der Villa ihres Vaters, wo sie vor einem überdimensionierten, mit diversen Champagnersorten befüllten Kühlschrank auf einem Rentierfell lag und Henning aus Oblomow vorlas, während draußen Bodyguards die Garagenzufahrt und die Gartentreppe bewachten. Die zweite war Mia. Sie hatte drei Semester Philosophie studiert, sich aber nach einem erbitterten Streit mit ihrem Dozenten über die Bedeutung des Wortes »Glas« im Werk von Jacques Derrida entschieden, die Philosophie aufzugeben und Grafikerin zu werden. Mia trug eine schwarze, an den Enden spitz zulaufende Brille und enge, röhrenförmige schwarze Hosen und erklärte Henning, sie liebe die Ästhetik der Reduktion . Ihr Bett war so hart wie das Baguettestück auf der Hutablage ihres Fiat Uno. Sie verbannte Hennings rosa und weiß gestreifte Hemden und die cremefarbenen Hosen und die blauen Docksider und das malvenfarbene Sweatshirt, das ihm seine Schwester geschenkt hatte, in einen großen Beutel, ließ ihn naturbelassene Baumwollhemden kaufen, die rauh wie Sandpapier waren,und verdrehte jedes Mal die Augen, wenn er etwas Weltanschauliches zu äußern versuchte. Als Henning feststellen musste, dass er Mias
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