Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
auf dem Schaltknüppel, mit dem ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger hielt sie ihre Zigarette so, dass die Asche direkt in den aufgeklappten Aschenbecher hinter dem Schalthebel fallen konnte (sie war wirklich elegant, wenn sie wollte und nicht gerade diese unmöglichen Sachen anhatte). Die DDR erschien ihm, besonders im Elbsandsteingebirge, wie eine dunkle, gewalttätige Welt, in der hinter dicken grauen Burgmauern hemmungslose Geschöpfe darauf warteten, von einem Ritter aus den Klauen eines Monsters befreit zu werden. Als das Monster dann allerdings in Form einer unangenehm aussehenden Truppe junger Männer mit spartanischen Frisuren auf ihn zukam – Biancas Exfreund, ein seit kurzem arbeitsloser Maschinenschlosser, hatte den Hinweis bekommen, dass seit einiger Zeit öfter ein Mercedes mit Hamburger Kennzeichen vor Biancas Tür parkte, und wollte »mal nachschauen, wer der Arsch ist« –, freute sich Henning, dass er zufällig abreisebereit im Wagen saß und die Motorleistung des Mercedes ausreichte, um den vollbesetzten Kadett des Exfreundes auf einer geraden Strecke abzuhängen. Danach kam Henning seltener in den Osten, und schließlich zog Bianca, die einen Studienplatz für Psychologie in Hamburg bekommen hatte, zu ihm.
Wenige Wochen später trat Henning Berkenkamp in das dunkle Speisezimmer seiner Eltern.
»Liebe Eltern, liebe Großeltern«, sagte er in den vom diffusen Licht eines alten hanseatischen Kronleuchters erhellten Raum hinein, »ich möchte euch mitteilen, dass Bianca und ich demnächst h…«
In diesem Moment schepperte der Gong der Standuhr zur vollen Stunde und verschluckte das Ende der Ansprache.
»Urlaub machen?«, fragte die Großmutter.
»Heiraten«, wiederholte Henning.
Ein Raunen und Nicken und Tassenwegstellen erfolgte. Heidemarie Berkenkamp starrte sprachlos in die Richtung der Standuhr, an der Henning, eine Hand in der Tasche seiner khakifarbenen Cordhose, mit unbeteiligtem Gesichtsausdruck lehnte. Sie konnten es nicht fassen; sie schauten, als hätte er die Firma des Großvaters für eine symbolische Mark an die russische Mafia verkauft.
»Also das ist«, sagte John Berkenkamp, der als erster die Sprache wiederfand und mit gemessenem Schritt im Raum auf und ab ging, als müsse er das Plädoyer in einem sehr schwierigen Fall sprechen, »ja nun, eine, hummhumm , Überraschung, mein lieber Henning.«
Danach fiel ihm erst einmal nichts mehr ein, und er klatschte, um Zeit zu gewinnen, in die Hände und blies die geröteten Backen auf. Heidemarie Berkenkamp starrte blass in das Geäst der Eichen vor dem Haus. Die Großmutter lächelte gütig; Bianca hatte ihr beim Einsammeln der gelben Blätter geholfen und erschien ihr von daher als eine gute Wahl. Für einige Sekunden herrschte vollkommene Stille. Die große Uhr tickte ihr holzwurmgeplagtes Ticken, Staub schwebte im Sonnenlicht durch den Raum. Dann sagte Heidemarie Berkenkamp »mein Junge«, erhob sich, schüttelte wie eine amerikanische Vorabendserienmutter den Kopf und nahm ihn in den Arm, als sei er von einer unheilbaren Krankheit befallen; danach verließ sie den Raum, bekam einen Schwächeanfall und aß vier Tage nur Zwieback.
Heidemarie Berkenkamp, die ihre Zeit am liebsten damit verbrachte, ins »Petit Café« zu gehen und sich dort von Freundinnen über Unglücksfälle und Skandale, die sie nicht betrafen, in Kenntnis setzen zu lassen, war eine konservative und im Grunde ihres Herzens ängstliche Frau. Seit der unerwarteten Liaison ihres Sohnes mit einer von denen stand sie unter einem uneingestandenen, aber nachhaltigen Schock, der unter anderem dazu führte, dass sie im Herbst 1990 zum ersten Mal in ihrem Leben die SPD wählte, deren Spitzenkandidat Oskar Lafontaine sich in Sachen Wiedervereinigung auf eine ihrwohltuend erscheinende Art und Weise uneuphorisch verhielt. Sie hatte im allgemeinen nichts gegen die Ostdeutschen, schließlich war ihr Vater selbst einmal von dort gekommen, aber gleich heiraten? Ihr Sohn! Und so eine … die er gar nicht kannte … Eine Hochzeit war zu viel für sie, noch dazu diese, die ihr die gesamte Ostverwandtschaft auf einmal ins Haus schwemmen würde. Gegen ihre Gewohnheit und um ihre Nerven zu beruhigen, trat sie an den Schrank, in dem John seinen Sherry aufbewahrte, und genehmigte sich ein Glas. Dann ging sie zum Friseur, zum Bäcker und in den Handtaschenladen und wieder zurück in die Berkenkamp’sche Backsteinvilla. Dort steuerte sie erneut den Barschrank an. Nach dem
Weitere Kostenlose Bücher