Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Blüten.
Hannelore Petrowski parkte am Zoo und betrat den Vorhof des Todes. In den Fluren liefen alte Menschen in cremefarbenen oder grauen Funktionsjacken herum, es waren Tarnfarben, die sie eins mit den Wänden werden ließen, so, als seien sie schon weg, und dann dieses Licht, dachte Hannelore Petrowski, dieses scheußliche, gnadenlose Autopsielicht, und dazu das Keuchen und Husten und Keifen und Jammern und Dämmern, die Vorhölle des Vergessens, sie würde es hier auf keinen Fall länger als eine Stunde aushalten.
Clara Bijoux hatte eigentlich ganz anders geheißen – Hannelore Petrowski wusste ihren richtigen Namen nicht mehr –, aber imGegensatz zu ihr, die nach dem Ende ihrer Karriere von Loretta wieder auf Hannelore umgestiegen war, so wie man nach dem Karneval sein Kostüm wieder auszieht, und anders als Jeanne Goldberg, die wirklich so hieß, hatte Clara Bijoux ihren Künstlernamen einfach weitergeführt. Man nannte sie auch hier Frau Bijoux.
Sie stand am Fenster, als Hannelore Petrowski den Raum betrat. Im Nebenzimmer rumorte ihr Mann herum; die Möbel, die sie aus ihrer Altbauwohnung mitgenommen hatten, drängten sich in der Enge dieser zwei Heimzimmer. Hannelore deutete eine Umarmung an und rief etwas Herzliches und Aufmunterndes.
»Möchtest du ein Wasser?«, fragte Clara Bijoux und angelte eine Mineralwasserflasche hinter dem Bett hervor.
»Nein danke.«
»Nicht?«
»Nein. Danke.«
Die alte Frau hob die Schultern und sah die Flasche ratlos an.
»Und was soll ich jetzt mit der Flasche? Trink was!«
»Du hast sie doch selber vorgeholt.«
»Weil du etwas trinken wolltest.«
Da Hannelore Petrowski keine Anstalten machte, Clara die Flasche aus der Hand zu nehmen, setzte Clara sie selbst an den Mund; das Wasser lief ihr über das Kinn auf den Bademantel. Ihr Mann, Herbert Kehringer, kam ins Zimmer, und sie nahmen auf knackenden Empirestühlen Platz.
Hannelore erzählte von einer Reise nach Afrika, schmückte Begegnungen mit Tieren aus, die sie nur aus der Ferne gesehen hatte, und stellte dann fest, dass Clara Bijoux eingeschlafen war. Ihr Kopf war auf ihre Brust gesackt, es wirkte, als wolle sie sich selbst in den Ausschnitt schauen, in einer Falte klemmte ihre Perlenkette.
Sie sieht aus, dachte Hannelore Petrowski und schauderte kurz, als ob sie erwürgt worden wäre – ob sie überhaupt Luft bekommt?
Herbert blinzelte sie ungeduldig an, die Tiergeschichten interessierten ihn offensichtlich nicht die Bohne.
»Vierundvierzig hatte es uns übel erwischt«, sagte er und führtemit zitternder Hand einen Keks zum Mund. »Wir saßen fest in einem Schlammloch hinter Galizien …«
Offenbar ging es ihm schlecht; seine Erinnerung gab nur noch Kriegsereignisse frei.
»Jedenfalls war es schön warm da«, setzte Hannelore ihren Reisebericht fort. »Wir hatten einen Bungalow mit Blick auf den Indischen Ozean, und an der Grenze zu Tansania, da haben wir morgens die Lö…«
»Wir hatten Keuchhusten, da war für uns Schluss. Der Rest der Kompanie ging nach Stalingrad. Da kam keiner wieder«, fuhr Herbert fort. »Ich hatte einen in der Kompanie, der kam aus dem Rheinland, Köln, nein, warte, es war Mönchengladbach …«
Hannelore Petrowski verschwand ins Bad. Sie starrte auf die Kacheln über dem Waschbecken; gemalte griechische Tempelruinen, vor denen der Ginster blühte, und vor diesen Ruinen standen auf einer gläsernen Ablage die Parfümflakons. Durch die dünne Tür hörte sie Herberts Stimme, er redete einfach weiter.
Sie schob ein paar Flakons von Chanel und Guerlain beiseite und zog aus der hinteren Reihe einen halbleeren Flakon mit der Aufschrift »Snob« hervor. Sie hätte schreien können vor Glück. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie Clara und Herbert einfach bitten sollte, ihn ihr zu schenken, aber das Risiko schien ihr zu groß. Weil sie nichts bei sich hatte, um den Flakon aus dem Bad zu schmuggeln, steckte sie ihn sich in den Ausschnitt.
Als sie den Raum wieder betrat, hatte Herbert Claras Kopf auf ein Kissen gebettet. »Sie ist sehr müde«, sagte er leise.
Auf dem Tisch standen jetzt zwei Gläser Likör und eine Pralinenschachtel. Hannelore Petrowski wehrte dankend ab, aber er bestand darauf, sie nicht ohne ein Gläschen gehen zu lassen. Nach dem Likör fühlte sie sich ein wenig schwindelig und griff deshalb zu den Pralinen, die, wie sie feststellen musste, mit Rum gefüllt waren. Der Flakon rutschte bei jeder Bewegung etwas tiefer, er lag jetzt sehr ungünstig
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