Faktor, Jan
Nachträglich sprach ich tagelang nur von den schönen
Frauenbeinen, von nichts anderem - von diesen Zehntausenden und Abertausenden
Beinen. Das Sportstadion Strahov ist - jedenfalls was die 60 000 Quadratmeter,
also ganze ACHT Fußballfeldergroße Turnfläche betrifft - das europaweit größte
Stadion. Die Fläche konnte also auch die größte Menge an synchron turnenden
Frauen aufnehmen. Das Sportliche, Harmonische, die Gleichzeitigkeit der Arm-
und Beinbewegungen, die geometrischen Muster, die die Turnerinnen auf der
riesigen Fläche entstehen ließen, alles, was ich sah, spielte für mich eine nur
untergeordnete Rolle. Was sich mir eingebrannt hatte, waren ausschließlich die
nackten Beine. Notgedrungen dachte ich später aber auch daran, daß sich alle
diese dreißigtausend Frauen zweimal täglich die Zähne putzten - oder es
zumindest hätten tun sollen.
In meiner
unmittelbaren Nähe ging es punktuell aber auch ausgesprochen triebschwach zu -
sogar bei einem jungen männlichen Wesen. Er war mein Mitschüler, schien unter
der Turnhose so gut wie penislos zu sein, außerdem war er dicklich, langsam,
trotz allem aber äußerst freundlich. Sein Vater arbeitete - wie meiner - bei
der »Geheimpolizei«. Dieser Bursche hatte bekanntermaßen ein körperliches
Geheimnis und durfte als einziger während des Unterrichts ungefragt auf die
Toilette gehen. Worin sein Geheimnis bestand, wußte leider niemand so recht.
Als ich einmal vom Arztbesuch in die Schule kam und unerwartet die Toilette
betrat, hockte dieser Leisetreter mitten im Raum oberhalb eines
Fußbodenabflusses und urinierte. Wir lächelten uns an. Da wir beide
gewissermaßen zum geheimpolizeilichen Nachwuchs gehörten, habe ich über seine
frauliche Art zu pinkeln niemandem etwas erzählt.
Dieses
arme Geschöpf hatte außerdem eine von einer Herzoperation stammende Narbe
mitten auf der Brust, und diese wurde in den Sommermonaten oft sichtbar. Weil
der Bursche ein unsicherer, wehrloser Mensch war, mußte er seine Narbe oft vorzeigen
und sich blöden Fragen aussetzen. Manche wollten immer auch noch mehr sehen,
fragten ihn nach weiteren Narben. Vielleicht »da unten«? Außerdem besaß er eine
dauerhaft fließende Augenhöhle.Entlang seiner Nase bildete sich im Laufe jedes
Vormittags eine braune Spur, die oft bis zu seiner Oberlippe reichte, in seinen
Mundwinkeln nisteten immer Häubchen von weißlichem Schaum. Wahrscheinlich
erleichterte er sich eben - vorsorglich libidinös, könnte man meinen - auf
diese Weise, tropfte gleich oben am Kopf aus. Im großen und ganzen war er ein
neidloser und gütiger Kerl. Als ich ihn nach vielen Jahren traf, war er rund
und sah vollkommen zufrieden aus. Zu diesem Zeitpunkt war er auf alle Fälle
viel gelassener als ich, der im Leben an der Seite von fraulichen Wesen noch
einiges durchzustehen hatte.
Übrigens:
Für Theodor W. Adorno und seine triebgesteuerte Attacke hatte meine Mutter
großes Verständnis. Adornos Frau sei so furchtbar häßlich, meinte sie.
beachte
den einbrecher nicht - wir werden ihn einfach ignorieren
Auf mein
formbares Wesen hat unter anderem auch ein sportives Prachtexemplar von Mann
einen eindeutig positiven, wenn nicht sogar voranpeitschenden Einfluß gehabt.
Es war der äußerst bewegliche Herr Zätopek, der berühmteste tschechische
Langstreckenläufer aller Zeiten. Für diese Einflußnahme reichte es vollkommen
aus, daß Zätopek ab und zu an mir - und meistens nur am nördlichen Rand meines
Wirkungsreviers - leise und unauffällig vorbeihuschte. Er durfte oder wollte
nicht abtrainieren, lief viel und oft und wurde manchmal auch im Osten beim
Stalindenkmal, im Westen bei der Militärakademie und in der Nähe der Burg
gesichtet. Er war kein junger Mann mehr, aber wie schnell er immer noch laufen
konnte! Sich im Leben zu behaupten und mit anderen mitzuhalten würde nicht
leicht sein - das war mir schon damals klar. Zätopek muß in der Villengegend
gewohnt haben, die hinter dem Sportplatz meiner Schule lag. Einmal saß er auf
einer Parkbank, aß Kirschen und schnipste die Kerne in unsere Richtung. Er
beschoß also meine wehrlose, in einer geordneten Formation zum Sportunterricht
marschierende Klasse und lächelte zweideutig. Jeder wußte, wer Zätopek war, und
jeder zitterte vor Angst - allerdings nicht wegen seiner Kirschkerne, sondern
weil uns mehrere lungenverbrennende Aufwärmrunden auf unserer verhaßten
Aschenbahn bevorstanden.
Skopka
brauchte keinen Stoffhasen vor der Nase wie ein
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