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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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bezeichnenderweise Linde bedeutet. Unser
Teil der Wohnung roch eindeutig viel besser als der Rest, und in unseren Zimmern
duftete es oft sogar nach Wald. Meine Mutter und ich brachten uns aus dem
Urlaub immer aufregende Gerüche mit - frisch harzende Splitter Waldholz, die
bei Waldarbeiten liegengeblieben waren, Wacholderäste mit Blüten oder Beeren -
oder Pilze, die wir einfach nur trocknen ließen und nicht unbedingt essen
wollten. Das am besten duftende Holz kam aus Mutters nordmährischen Beskyden,
ihrer eigentlichen Naturheimat bei Ostrau. Als ich einmal aus der Schule kam
und ein beim Sportunterricht durchgeschwitztes Oberhemd nach Hause brachte -
nicht meins, aus Versehen hatte ich mir ein fremdes geschnappt -, gab es in der
gesamten Wohnung einen Aufstand. Alle rochen, daß bei uns ein Fremdling
eingezogen war, alle befürchteten die Invasion eines eurasienfremden Skunks
oder Opossums und suchten es überall. Alle wußten, daß ein Wesen mit derartigem
Körpergeruch in unserer Großfamilie niemals geduldet werden würde. Die
stinkende Quelle der Aufregung hing dabei reglos im Badezimmer.
    Auch als
ich und Großmutter Lizzy meine Mutter in ihrem Tuberkulose-Internierungslager
besuchten, gab sie uns etwas gut Riechendes mit auf den Weg. Meistens ganze
Bündel von Gräsern und Wiesenblumen. Die Zeit vor ihrem Weggang ins Sanatorium
war seltsam bedrückend gewesen, auch wenn mir nie in den Sinn gekommen war, daß
mir meine Mutter hätte wegsterben können. Dabei hatte ihr Siechtum ein ganzes
Jahr gedauert. Sie wurde immer schwächer und müder, und ihre schönen oder
weniger schönen jüdischen Ärzte rätselten, was ihr gefehlt haben könnte. Und
weil einer von ihnen Chefarzt der psychiatrischen Klinik von Bohnice war -
meine Mutter und ich kannten uns dort bereits gut aus -, nahm er sie
vorsorglich für mehrere Wochen zur Beobachtung auf. Ihr ging es dort überhaupt
nicht besser, und sie sah unter den vielen Problemfällen auch einigermaßen
verstört aus. Niemand kam in dieser Zeit auf die Idee, sie zum Röntgen zu
schicken. Irgendwann hatte sie sich in einem der Lungenflügel ordentliche
Löcher freigelüftet. Mit TBC war damals noch weniger zu spaßen als heute.
Insgesamt fiel das Jahr der großen Trennung trotzdem in die eher harmonische
Zeit unserer Beziehung, einfach in die Zeit, die eindeutig unsere gemeinsame
gewesen war. Wenn meine Mutter über diese Periode sprach, sagte sie gern
scherzhaft: »Ja, damals - ALS WIR BEIDE NOCH KLEIN WAREN.«
    Wir beiden
Kleinen erlebten damals wirklich allerlei, waren ungeschickt und unvernünftig
wie zwei Geschwister, die ohne väterliche Aufsicht auskommen mußten. Einmal
stellten wir die Haushaltsleiter auf und wollten gemeinsam eine Gardine
aufhängen. Ich kletterte als erster nach oben, meine Mutter kam nach und
lächelte mich lieblich an. Ich konnte leider nicht zurücklächeln, weil mein
kleiner Finger im Spalt zwischen den beiden Leiterhälften gerade in die Zange
genommen worden war. Das Gewicht unser beiden Körper drückte ihn immer flacher
zusammen, und ich wurde dabei so gründlich ruhiggestellt, daß ich bis auf
weiteres stumm blieb. Ich sah meine Mutter konzentriert an und litt. Unsere
Gesichter waren auf der gleichen Höhe, und meine Mutter fragte mich geduldig
aus, forschte danach, was mir fehlte. Sie blieb liebevoll in meiner Nähe,
studierte weiter meine Mimik, streichelte mich. Aus meinen Augen quoll dabei
leider so viel Wasser, daß mein Blick - zu meinemFlachfinger hin - verschwommen
war, die Blickrichtung undeutlich blieb. So aufregend ging es bei uns also
manchmal zu - damals, als wir beide noch klein waren. Das Gute bei solchen und
ähnlichen Vorfällen: Beim Trösten war meine Mutter wirklich ausdauernd, und
wenn ich nach einer Stunde immer noch wimmerte, bekam ich weiterhin Trost
gespendet, der tatsächlich frei von jeglicher mütterlicher Ungeduld war;
irgendwann auch frei von jeglichem Restschmerz meinerseits.
    Als die
Tuberkulose meiner Mutter wieder vollständig ausgeheilt war und sie nicht
gerade eine Depression hatte, konnte ich mit ihr wieder ungehindert lachen und
endlos scherzen. Manche Scherze durfte ich mit ihr aber nie anstellen. Man
durfte meiner Mutter keine abgetrennten menschlichen Gliedmaßen präsentieren - das
hieß zum Beispiel, daß ich meine Hand möglichst nie hinter einer nur
angelehnten Tür vorzeigen durfte. Manchmal wollte ich meine Mutter allerdings
doch hysterisch schreien hören. Dann reichte es beispielsweise,

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