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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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unartiges
Verschwinden vorerst nicht viel ändern. Man versuchte - aber das war schon
immer so -, die eingespielte Kontinuität zu wahren. Sogar einige Jahre vor
meinem Weggang wurde ich noch gefragt, ob mein STUHLGANG in Ordnung sei.
Regelmäßig? Nicht zu hart?
    - Gehst du
morgens, Georg? Morgens ist es am gesündesten.
    Was ich
mittags gegessen hatte, wollte von mir meine liebste Großmutter Lizzy sowieso
jeden Tag wissen.
    - Um
Gottes willen, Georg! Jetzt gibt es das gleiche zum Abendbrot - tut mir so
leid.
    Daß wir
dort wohnten, wo wir wohnten, daß wir also so schön wohnten in Prag, hatte
unsere Familie meiner Mutter Anna zu verdanken. Sie, ihre Mutter Lizzy und
Schwester Eva hatten sich nach der Flucht vom Todesmarsch erst einmal nach
Ostrau begeben. Meine Mutter hatte sich am schnellsten erholt und war als
Ein-Frau-Vorauskommando bald nach Prag aufgebrochen, um eine große Wohnung für
alle, die zurückgekommen waren oder noch erwartet wurden, zu finden. Sie suchte
sich die schönste Gegend aus und fragte den erstbesten Polizisten, der auf
einer Kreuzung den Verkehr regelte, ob er ihr helfen könne. Dieser Mann wußte
zufällig, daß gerade eine prächtige Riesenwohnuns am barocken Tor, an der
»Piseckä bräna«, frei geworden war.
    - Die
Familie Otto mußte raus, Deutsche. Er war der hiesige Apotheker. Die Wohnung
wird aber bestimmt geteilt werden müssen.Meine Mutter ging, resolut wie sie
war, sofort zur zuständigen Wohnungsvergabestelle und bekam den Schlüssel. Eine
der nächsten Amtshandlungen von ihr war der Gang zum Lagerhaus, in dem man vor
der Deportation alle beweglichen Teile des Besitzes hatte deponieren müssen.
Das einzige, was sie zurückhaben wollte, waren drei Ölbilder - ihr eigenes
Porträt und die ihrer Mutter und Schwester. Als meine Mutter gemalt worden war,
war sie zwölf Jahre alt. Beim Abholen der Bilder war sie neunzehn.
    - Keine
Möbel, danke, davon haben wir genug.
    Die
meisten Türen in unserer Wohnung schlossen nie ganz richtig, und wenn, dann nur
mit gezieltem Kraftaufwand oder mit einem für jede Tür etwas anderen Trick. Und
nach Onkels heiztechnischer Heimsuchung war alles nur noch schlimmer geworden.
Jede einzigartig abgesackte, das heißt nicht nur individuell verzogene Tür
mußte im Grunde als ein sensibles Einzelwesen behandelt werden. Und nicht alle
bei uns konnten sich in alle unsere Türen wirklich einfühlen. Und so hörte man
tagtäglich, wie irgendwo - man wußte meistens auch genau, wo - Holz an Holz
stieß, sich Holz quietschend an Blechbeschlägen rieb, wie eine unter Spannung
stehende Tür wuchtig ausrastete oder eine andere im Schließblech des Türrahmens
nur ungenügend einrastete. Diejenigen Türen, deren Schnapper nicht vollständig
einfahren konnten, sprangen erwartungsgemäß bald wieder auf und machten sich
auf den Rückweg. Das machen generell alle Türen, die nicht hundertprozentig
senkrecht hängen; manche unserer Türen hingen sogar sichtbar schief. »Buff«,
machte es nach einer knapp bemessenen Ruhepause, wenn die betreffende Tür an
das angrenzende Möbelstück, einen Stopper oder an die Wand stieß. Warum erzähle
ich das alles? Ich war kein Kind mehr, und ich wollte - solche Impulse kannte
ich lange genug - nicht nur weg von meiner ganzen Familie, ich wollte
genausoweg von allen diesen Türen und ihrem taktlosen Dauerkonzert.
    Meine
Mutter Anna himmelte mich an, blickte gern zu mir auf - und die Intensität, die
dabei aus ihren unanständig herausgedrückten Augäpfeln auf mich einströmte, war
für mich immer schwerer zu ertragen. Sie beobachtete mich beispielsweise mit
Vorliebe, wenn ich Musik hörte. Oft hampelte sie dabei wenig sympathisch,
machte dazu unpassende Grimassen oder bewegte ihre Hände im Takt. Daraus konnte
ich schließen, daß sie nichts fühlte. Wenn ich ihr die Sensibilität bestimmter
Töne in Tonleitern erklären wollte, ihr beispielsweise die beiden Terz- und
Septimevarianten auf der Gitarre vorspielte, wußte ich nicht recht, ob die
Bedeutung dieser grundlegenden, für Menschen wie mich beinah
fleischzersetzenden Halbton-Unterschiede bei ihr überhaupt ankam. Sie sah mich
einmal voller Bewunderung an, als ich ihr einen kleinen Vortrag über Ironie in
der Musik hielt. Ich spielte ihr zwei mehr als deutliche Stellen vor, die ich
in der »Geschichte vom Soldaten« von Strawinsky gefunden hatte.
    - Dieses
Gehampele und die irrwitzige Intensität - das kann einfach nicht ernst gemeint
sein. Als er das komponiert hat, war

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