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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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der erste Weltkriegswahnsinn noch voll im
Gange.
    -
Interessant! sagte sie und strahlte mich an. Ich höre das aber nicht, Georg.
    Obwohl mir
ihre Bewunderung kurzzeitig auch guttat, empfand ich sie - eben weil sie von
ihr kam - als schwere Belästigung. Ich wurde gegen ihre Eigenarten immer
allergischer, reagierte darauf regelmäßig mit einer Art Kopfüberdruck. Ich sah
meiner Mutter beispielsweise deutlich an, wie eifersüchtig sich einige ihrer
Gesichtsmuskeln versteiften, wenn ich mir eine andere Frau ansah. Theoretisch
wünschte sie mir natürlich eine passende und mir entsprechende - junge! -
Freundin, in diesem Wunsch steckte abergleichzeitig ein großes Problem. Meine
Mutter war furchtbar verwöhnt, sie war es zu lange gewohnt gewesen, die
Schönste und Anziehendste weit und breit zu sein. Und alle jungen Mädchen
hatten viel feinere Haut als sie, wesentlich elastischere Körper und oft auch
bessere Laune - die beste Laune voller süßester Ahnungslosigkeit. Manche
Urteile meiner Mutter, die durch diese sie bedrohende Entwicklung geprägt
waren, wurden zunehmend irrational. Oft fand sie auch ausgesprochen unbedarfte,
manchmal sogar ausgerechnet häßliche junge Frauen wunderschön. Und das konnte,
dachte ich mir, nur mit dem frischen Gesichtsepithel dieser mittelmäßigen
Geschöpfe zu tun gehabt haben - oder mit ihren knabenhaften Gesäßen, die noch
nichts auszusitzen hatten. Mir war es inzwischen etwas unheimlich, wie
durchschaubar meine Mutter zu werden drohte. Schon sehr früh war es
überdeutlich, daß sie sich für alle weiteren Anzeichen des Alterns schämen
werden würde. Ich wollte ihr dabei nicht unbedingt zusehen.
    Wenn ich
meine Julie-Driscoll-Platte aufgelegt hatte, rannte meine Mutter schnell weg.
Julie Driscolls Stimme war einmalig - schrill, selbstbewußt, penetrant. Julie
Driscoll kümmerte sich in meiner Phantasie wenig darum, ob Männer vor ihr Angst
hatten oder nicht. »Season of the Witch« war einer ihrer besten Titel. Meine
Julie war eine außergewöhnlich begehrenswerte Hexe, sie war das Gegenteil
meiner Mutter, die ihre Kränkungen und Komplexe gern und gekonnt immer
wegschluckte - lächelnd, versteht sich. Julie Driscoll schien dagegen eine Art
Kampfansage an die Adresse aller männerfügsamen Frauen herauszuposaunen. Meine
Mutter kam aber auch mit meinen kreischenden Bulgarinnen nicht klar. Diese
schrien ihr urslawisches, unter türkischer Herrschaft (Unterjochungsdauer: 500
Jahre) angesammeltes Leid mit ungehemmter Kraft heraus. Sie rissen noch genauso
wie im Mittelalter ihre selbstbewußten Münder auf und ließen in ihren
Brustkörben lange Resonanzsäulen vibrieren. Ihre seltsam gepreßten
Kehlkopfstimmen polarisierten unsere ganze Etage. Die bulgarischen Weiber trauten
sich einfach, sich ihr Leid auch ansehen zu lassen. LÄCHELN hätte eine
kreischende Bulgarin bei der dauerhaften Gesichtsverzerrung und der
resonanzrelevant nach hinten gezwängten Halspartie sowieso nicht gekonnt.
Ehrlich gesagt war ich bei uns der Einzige, den diese Musik wirklich
begeisterte.
    Auf Fotos
aus der Kindheit sieht meine Mutter oft leicht eingeschnappt aus, manchmal auch
etwas melancholisch; auf späteren Jugendbildern aus der Nachkriegszeit dann
eher verträumt. Sicher war sie damals sogar zukunftsverträumt, so wie ich es
später werden sollte. Auf diesen Bildern, auf denen man ihr überhaupt keine
KZ-Unannehmlichkeiten mehr ansieht, hat sie außerdem eine ruhend wissende, fast
weise Ausstrahlung. Dabei kam sie sich nie als wirklich wissend, ausreichend
gebildet oder sogar weise vor. Aber an Schönheit scheint oft auch ein Schimmer
von Weisheit zu haften - bei allen Defiziten, in aller Unschuld. Die
gegenteiligen Klischees über die DUMMEN SCHÖNHEITEN können nicht stimmen, sagte
ich mir eines Tages, als ich wieder einmal alte großformatige Schwarzweißbilder
meiner Mutter studierte. Die Bilder stammten von meinem begabten Vater, dem
seine Jugendfreunde prophezeit hatten, er könnte ein guter Fotograf werden.
    Wenn ein
schöner Mensch vor ein Midlife-Tribunal tritt, das nach einer strengen Prüfung
der Fakten über die Sinn- und Zweckhaftigkeit seiner Existenz zu befinden hat,
kann sich dieser Träger des zeitgemäßen Schönheitsideals wenigstens einer Sache
sicher sein: Er hat mit seinem Äußeren einen menschheitsgenehmen Dienst bereits
abgeleistet. So gesehen hat er es im Leben viel einfacher als die weniger
schönen um ihn herum, das Atmen und gelegentliche Stöhnen fällt

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